"Wir fühlen uns hier wohl" / Nach 30 Jahren Exil sind die Tibeter in Nepal heimisch geworden. Die Erklärung ist einfach: "Tibets Kultur ist der Buddhismus, und dessen Wiege stand in Nepal".

Nach 30 Jahren Exil sind die Tibeter

in Nepal heimisch geworden.

Die Erklärung ist einfach:

„Tibets Kultur ist der Buddhismus,

und dessen Wiege stand in Nepal“.

VONTOMTREKKER

Tsering Yangkee sitzt in ihrem kleinen Laden am Rande Katmandus breitbeinig auf einem Stapel handgeknüpfter Teppiche, die quergestreifte Schürze läßt sie mit den kräften Händen über ihrem grauen Rock auf und ab wippen. Sonst, wenn die Tibeterin geschäftig zentnerschwere Wollware hin- und herwuchtet und für mehr als 1.000 Dollar — Handeln aussichtslos — an Ausländer verkauft, bleibt sie ruhig und gelassen. Jetzt ist sie offensichtlich aufgeregt. Die 36jährige Frau erzählt ihre Geschichte, die glücklichere Version der Geschichte von 14.000 Tibetern, die seit der Machtübernahme der Chinesen im Reich des Dalai Lama 1959 ins südliche Nachbarland Nepal geflohen sind und sich hier niedergelassen haben.

„Wir waren eine reiche Familie in einem Dorf nahe Shigatse. Wir hatten Land, Kühe und Yaks. Unser Haus hatte 18 Räume und war das einzige im Dorf mit einer Toilette“, erinnert sich Tsering. Die chinesische Armee habe ihren Vater ins Gefängnis gesteckt, „einfach weil er reich war“. Dann wären die einfachen Bauern und Bettler gekommen und hätten das Haus geplündert. „Wären wir nicht geflohen, wir wären alle gestorben“, sagt die Geschäftsfrau mit dem Brustton der Überzeugung. Tibet war nach der Revolution in China schon 1950 von der Volksbefreiungsarmee besetzt worden. Nach der Zunahme bewaffneter Aufstände Ende des Jahrzehnts unterjochten die Chinesen Tibet. Der 14. Dalai Lama floh zusammen mit 100.000 Anhängern ins indische Dharamsala.

„Meine Mutter mietete ein Pferd, später Yaks, und zog mit uns vier Töchtern und der Großmutter über den Himalaya“, berichtet die Teppichhändlerin von der Flucht. „Gerettet hatten wir nur etwas Hirse zum Essen, die Schmuckstücke der Familie und eine kleine Buddha-Figur aus dem Gebetsraum in unserem Haus. All die anderen Heiligenbilder und -figuren hatte meine Mutter eigenhändig in den Fluß werfen müssen.“ In den 60er und 70er Jahren trieben die Chinesen einen Sturm der Verwüstung über das Himalaya-Hochland: Unzählige Klöster wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Mönche getötet, vertrieben oder verschleppt. Von mehreren hunderttausend Opfern, beinahe einem Völkermord an den Tibetern sprechen Menschenrechtsorganisationen. „Wir sind heute in unserem Land eine Minderheit, Opfer chinesischer Apartheid“, bilanziert ein prominenter Exil-Tibeter in Katmandu. Seinen Namen will er nicht genannt wissen, aus Angst vor chinesischer Repression.

Opfer chinesischer Apartheid

30.000 Tibeter kamen in den 60er Jahren auf alten chinesisch-indischen Handelsstraßen über die Himalaya-Pässe nach Nepal. Die meisten folgten dem geistlichen Opferhaupt nach Indien ins Exil, 10.000 blieben damals im bettelarmen Hindu-Königreich. „Am Anfang war es schwer in Nepal“, erinnert sich Tsering. „Die Schweizer gaben uns zu essen, Kleidung und Medizin. Mit meiner jüngeren Schwester wurde ich dann nach Dharamsala geschickt. Ein halbes Jahr besuchten wir die Schulen des Dalai Lama, zusammen mit mehr als 100 tibetischen Kindern.“ Nepals Regierungen, bis zur jüngsten Revolution am Himalaya im April 1990 ohnehin Büttel des absolutistischen Königshauses, hielten sich mit Hilfen für die tibetischen Flüchtlinge zurück. Angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Indien will es sich Nepal nicht mit dem anderen großen Nachbarn China verderben. Nach Angaben eines Tibeter-Vertreters wurde nur eines von zwölf Flüchtlingsprojekten durch Nepals Regierung — ganz im Sinne der Pekinger Führung — getragen: die Entwaffnung und Ansiedlung von tibetischen Widerstandskämpfern im nepalischen Hochland.

Zunächst nahm sich die Schweizer Entwicklungshilfeorganisation der tibetischen Flüchtlinge an: In sogenannten „Refugee Camps“ wurde ihr handwerkliches Können gefördert. Auch Tsering Yangkee profitierte vom Schweizer Ausbildungsprogramm: „Drei Jahre büffelte ich Buchhaltung und Kostenrechnung. Dann starb mein Onkel. Er war Lama in Tibet gewesen und hatte hier einen Handel mit alten Teppichen aufgezogen, die er geflohenen Landsleuten abgekauft hat. Ich habe das Geschäft dann übernommen.“ Der Laden liegt nur einen Steinwurf entfernt vom „Tibetean Refugee Camp“ in Jawalkhel, einer von zwölf Siedlungen tibetischer Flüchtlinge, die über Nepal verstreut sind.

Die allwissenden Augen Buddhas

„Wir fühlen uns hier wohl“, beschreibt ein Tibeter-Vertreter die Stimmung seiner Landsleute nach 30 Jahren Exil. Die Erklärung ist einfach: „Tibets Kultur ist der Buddhismus, und dessen Wiege stand in Nepal.“ Als Prinz Siddhartha Gautama wurde Buddha knapp ein halbes Jahrhundert vor Christus in Lumbini, einem tropischen Terai-Städtchen an der Grenze zu Indien, geboren. Zu der heiligen Stätte wallfahrte auch der Dalai Lama bei seinem letzten Besuch in Nepal — vor zwölf Jahren.

Im Katmandu-Tal dominieren zwei buddhistische Zentren: im Westen das weithin sichtbar auf einem Hügel gelegene, wohl auf vorbuddhistische Traditionen zurückgehende Swayambhunath, bei Touristen als „Affentempel“ bekannt, und im Osten Bodhnath. Dieser gewaltigste nepalesische Stupa, religiöses Symbol für die vier Elemente, gekrönt von Sonnenzeichen für die Verheißung des Nirwana, ist seit altersher Wallfahrtsort tibetischer Buddhisten. „Ich bin jede Woche in Bodhnath“, erklärt Tsering und fügt an, „aber nicht immer zum Beten.“ Um den Stupa herum hat sich sternförmig eine tibetische Infrastruktur angesiedelt, neben den Touristenläden mit Silberschmuck oder Gebetsmühlen zahlreiche Momo-Restaurants — und vor allem Klöster. Beim Blick von der obersten Stupa-Terrasse, knapp unterhalb der in alle vier Richtungen blickenden, allwissenden Augen Buddhas, dominieren Klosterportale die Silhouette Bodhnaths.

Die Klöster haben Zulauf

Am Nachmittag weisen Klänge von Posaunen und Trommeln den Weg zu einem nahegelegenen nepalischen Kloster, ein Internat mit rund 100 Jungs. Breites Lachen in runden Gesichtern begrüßt einen an der Pforte — anders als bei hinduistischen Heiligtümern ist den Ungläubigen der Weg zum Buddhismus nicht versperrt. Die rhythmische Musik kommt zusammen mit vielstimmigem Kindergesang aus dem ersten Stock. Ein 14jähriger mit dem Mönchsnamen Karmatharchin erklärt, es sei die zweite Gebetsstunde. Die erste beginne morgens um fünf Uhr. Rund 50 Jungs hocken im Schneidersitz hinter flachen Bänken, vor ihnen buddhistische Gebetbücher, zwischen zwei schmalen Brettern in rotes und gelbes Tuch gehüllte Blätter mit Mantras. Diese Gebetsformeln richtig, das heißt ihre innewohnende Kraft entfaltend aufzusagen, zu singen, zu betonen, bedarf langer Schulung und Übung. Viele der Klosterschüler wiegen sich in der tonarmen Musik und ihrem eigenen Gesang, laut, aber nicht schön — wie wohl auf jeder anderen Mittelschule der Welt. Zwei Touristen haben sich in Nischen gekauert und lauschen.

Plötzlich passiert etwas Befremdliches: Ältere Jungen gehen mit großen Plastikeimern voll Keksen oder Brottaschen umher. Die Kinder hinter den Tischen recken wie Bettler die Hände nach vorn, um etwas von dem trockenen Süßzeug zu ergattern. Die gierigen Hände zeigen, daß der Weg zum begehrenslosen Nirwana, der Schwelle zur Erlösung, noch weit ist. Einer der Verteiler wirft wie bei einer Viehfütterung Kekse vor die Kleinen, in die Schöße der weinroten Mönchskutten. Zu den ehrfurchtgebietenden Gebetbüchern gesellen sich orangene Plastikschalen für den zuckersüßen Milchtee, in dem die Kekse eingeweicht werden. Die vermeintliche Idylle bekommt einen bitteren Beigeschmack, der Blick verschiebt sich: Das selbstversonnene Wiegen einiger Kinder ließe sich auch als Anzeichen von Hospitalismus interpretieren, stilles Auflehnen gegen das strenge Kloster-Regiment. Doch das verlegene Lächeln Karmatharchins bei der Frage, ob er gerne im Kloster ist, versöhnt wieder: „Das ist Karma, mit diesem Wort fangen alle unsere Namen an.“ Karma heißt soviel wie persönliches Schicksal, aber auch Glück.

Nach Ansicht eines führenden Tibeter-Vertreters wächst die tibetisch-buddhistische Kultur in Nepal. Während die Chinesen in Tibet immer noch Mönche aus den Klöstern vertrieben, erhielten die „gompas“ am Himalaya-Südhang Zulauf. In den von der dritten Flüchtlingsgeneration besuchten öffentlichen Schulen können Tibeter ihre Sprache und Kultur unterrichten — zusätzlich zu den offiziellen nepalischen Lehrplänen.

Bescheidener Wohlstand

Aber nicht nur der traditionellen kulturellen Verbindungen wegen fühlen sich viele Tibeter in Nepal wohl. „Den meisten geht es auch sonst ganz gut“, erklärt der prominente Exil-Tibeter den materiellen Aspekt. „Ohne uns läuft im Geschäft mit nepalischen Teppichen nichts.“ Neben dem Tourismus ist der Teppichhandel die zweitwichtigste Devisenquelle Nepals. Zwar seien zwei Drittel der Fabriken im Besitz nepalischer Geschäftsleute, doch Design und Handwerk leisteten zu 80 Prozent Tibeter, heißt es. Auch Tsering Yangkee ist gut im Geschäft. „Wir sind klein“, untertreibt sie. An 60 Rahmen knüpften kaum 200 Arbeiter. „Andere haben 1.000 Leute.“ Das meiste Geschäft sei auf Kredit: „Das Teppichlager gehört sozusagen der Bank“, führt die erfolgreiche Geschäftsfrau aus. Trotz einer Jahresproduktion von gut 5.000 Quadratmetern Teppich, was einem Umsatz von 375.000 Dollar entspricht, resümiert Tsering: „Wir sind nicht reich, aber wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.“

Auch bescheidener Wohlstand hat seine Schattenseiten. In der Vorzeige-Fabrik des Tibetean Refugee Camps Jawalkhel sitzen meist fröhlich schwätzende Frauen vor den hohen Holzgestellen, wo aus 80 Knoten pro Quadratinch die Massenware für deutsche Kaufhäuser entsteht. Aber andernorts verarbeiten flinke Kinderhände die handgesponnene Wolle. Angeschleppt werden die Kleinen meist von irgendeinem weitläufigen Verwandten, der sich und seinen Clan einem Fabrikbesitzer für 300 Rupien pro Quadratmeter, dem gesetzlichen Mindestlohn für Knüpfer, verkauft hat.

Umweltschutz — ein Fremdwort

In diesen Manufakturen mit dem Schild „Eintritt verboten“ am Tor herrschen noch in anderer Hinsicht vorindustrielle, manchmal katastrophale Zustände: In großen, holzbefeuerten Kupferkesseln wird die Wolle (oft aus Neuseeland importiert) gefärbt. Naturfarben sind rar und umständlich. So kommt die Chemie zum Zuge — und nach dem Gebrauch fließt das blaue, rote, grüne Gebräu zusammen mit den Chemikalien vom Teppichwaschen in die umliegenden Reisfelder. Doch in Nepal, dessen frühere Regierungen trotz aller Erosion hektarweise Wälder nach Indien verscherbelten, ist „Umweltschutz“ fast noch ein Fremdwort. Bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 160 Dollar pro Jahr sind Abfallbeseitigung und Reinlichkeit Luxus.

Es ist dunkel geworden vor Tserings Laden. Ihr Vater, den sie 20 Jahre nach der Flucht von einem Schwager aus Tibet herausholen ließ, schließt die Holztüren. Tief gebeugt von zwölf Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit, aber nicht gebrochen, schiebt er den mondgesichtigen jüngsten Enkel vor sich her. Eine letzte Frage: Zurück nach Tibet? „Wir schauen immer nach vorne und hoffen, nach Tibet zurückgehen zu können — wenn die Chinesen weg sind und der Dalai Lama wieder da ist.“ Gut eineinhalbtausend Jahre alt ist die Prophezeiung für die Tibeter, daß ihr Land einst besetzt, aber auch wieder befreit werde.