Trotz Gattastrophe: In Gatt we trust

taz-Gatt-Serie, Teil 9: Die Stunde der Wahrheit schlägt nächste Woche, wenn etwa 2.000 Delegationsmitglieder und unzählige Lobbyisten zur Brüssler Schlußrunde der Verhandlungen über die Liberalisierung des Welthandels antreten  ■ Aus Genf Andreas Zumach

„Things have totally GATTen out of control“, kommentierten die Pessimisten unter den Genfer Gatt-Experten ihren diese Woche nach vierjährigen Verhandlungen vorgelegten 391-Seiten-Bericht, die Grundlage für die am Montag in Brüssel beginnende abschließende Gatt-Ministerrunde. Sie rechnen mit einer „GATTastrophe“, einem Scheitern der „ambitioniertesten Verhandlungsrunde in der Geschichte des Welthandels“ (Gatt-Generaldirektor Arthur Dunkel).

„In Gatt we trust“ halten ihnen trotzig die Optimisten entgegen, die weiterhin fest davon ausgehen, daß sich vor allem die drei Wirtschaftsmächte EG, USA und Japan „ein Scheitern nicht leisten können“, daher am Ende der Ministerrunde zumindest ein „politisches Rahmenabkommen“ unterzeichnet und die Wideraufnahme der Verhandlungen im Januar vereinbart wird.

Zur Erfindung ähnlich geistreicher Sprüche und Wortspiele werden die knapp 2.000 Delegationsmitglieder, über 1.000 Journalisten und zahlreichen Lobbyisten, die im Heizel-Ausstellungsgelände am Brüsseler Atomium erwartet werden, in den nächsten acht Tagen und Nächten ausreichend Gelegenheit haben. Es sei denn, die Verhandlungen platzen bereits während der für Montag und Dienstag vorgesehenen Plenarsitzungen der Handelsminister aus den 107 Gatt-Staaten. Arthur Dunkel hat sich auf diese Möglichkeit bereits eingestellt. Bei der Vorstellung des Abschlußberichts der Genfer Expertenverhandlungen erklärte er, Bedingung für einen Erfolg sei, daß „in den ersten Morgenstunden des ersten Tages“ in Brüssel „politische Weichenstellungen“ zur Überbrückung grundsätzlicher Differenzen fallen. Wobei Dunkel „Erfolg“ als zufriedenstellendes Ergebnis für alle teilnehmenden Staaten definiert.

Bislang deutet nichts daraufhin, daß die erforderliche Revision politischer Positionen stattfinden wird. Das gilt vor allem für den Bereich Landwirtschaft, laut Dunkel das „Zentrum der Gatt-Krise“. Die EG ist „unter keinen Umständen bereit“, ihre gemeinsame Agrarpolitik und vor allem deren Kernstück, das duale Preissystem, „zur Disposition“ zu stellen wie ihr Chefunterhändler Hugo Paemen diese Woche in Genf noch einmal bekräftigte. Doch genau dies erwarten die USA, die Cairns- Gruppe, zu der sich 14 agrarexportierende Länder zusammengeschlossen haben, und die „Drittweltstaaten“ von der EG und berufen sich dabei auf das vor vier Jahren in Punta del Este vereinbarte Ziel „substantieller, wachsender Kürzungen von Agrarsubventionen“.

So bleibt in diesem Bereich nur Spielraum für weitgehend kosmetische Kompromisse, wie sie inzwischen zumindest informell zwischen Unterhändlern Brüssels und Washingtons ausgelotet werden (siehe gestrige taz): Durch die Veränderung von Berechnungsgrunddaten, die Verkürzung von Reduzierungszeiträumen und ähnliche Operationen lassen sich die derzeit noch weit auseinanderliegenden Größenordnungen bei der Kürzung interner Subventionen (USA: 75 Prozent, EG: nominal 30 Prozent, de facto 15 Prozent mehr) auf eine Kompromißgröße annähern, die Brüssel den Bauern in der EG und Washington dem US-Kongreß als Erfolg verkaufen können. Bei Exportbeihilfen, Kompensationszahlungen und Abbau von Marktzugangshindernissen sind ähnliche Deals vorstellbar und bereits in der Diskussion.

Tokio wäre für jedes Geschäft im Agrarbereich zu gewinnen, solange es nur keine negativen Auswirkungen auf die japanische Reisproduktion hat. Ob allerdings die anderen 91 Gatt-Staaten einen solchen Deal der drei großen Wirtschaftsmächte einfach schlucken, ist völlig offen. „Von uns und anderen Drittweltstaaten wird verlangt, daß wir die Subventionierung unserer Industrieexporte in den nächsten zehn Jahren völlig einstellen. Auf der anderen Seite sollen wir uns mit einigen Prozentschiebereien der EG und der USA im Agrarbereich zufrieden geben“, brachte ein brasilianischer Unterhändler den Widerspruch auf den Punkt, der die große Mehrheit der Gatt-Staaten zunehmend in Rage bringt.

Ursprünglich hatten sowohl die Cairns-Gruppe wie die in der G15 organisierten am wenigsten entwickelten Länder, angekündigt, gar nicht erst nach Brüssel zu reisen, wenn bis Ende November in Genf keine „befriedigenden Ergebnisse“ im Agrar- und den anderen zentralen Bereichen auf dem Tisch liegen. Diese Drohung haben sie nicht wahrgemacht. Ihre Minister kommen nach Brüssel — allerdings mit der ausdrücklich angekündigten Option, dort auch wieder vorzeitig abzureisen.

Politischer Entscheidungen, diesmal vor allem aus Washington, bedarf es auch im Verhandlungsbereich Dienstleistungen, soll hier eine Einigung mit Substanz zustande kommen. Hier hat sich die Lage seit Beginn der Uruguay-Runde vor vier Jahren total verkehrt. In den ersten drei Jahren drängten die USA mit Blick auf ihre expansionssüchtigen Kreditkartenunternehmen, Banken und Versicherungen auf eine Aufnahme des Handels mit Dienstleistungen in das Gatt-Regelwerk. Die Drittweltstaaten meldeten zunächst Bedenken an, weil sie befürchteten, daß ihre einheimischen Unternehmen von der technologisch wie finanziell überlegenen ausländischen Konkurrenz an die Wand gedrückt würden. Zwischenzeitlich beteiligten sie sich jedoch an der Erstellung eines Vertragsentwurfes für diesen Bereich.

Jetzt aber will Washington — auf Druck der entsprechenden heimischen Lobbys — die Bereiche Flug- und Schiffsverkehr sowie Telekommunikation ausklammern. Zusätzlich verlangt die Regierung in Washington neuerdings das Recht, auch künftig in jedem Einzelfall entscheiden zu dürfen, ob sie den Dienstleistungsindustrien eines anderen Landes den völlig ungehinderten Zugang auf den US-Markt gewährt oder nicht. Hätte es neben den USA noch weitere Länder mit ähnlichen Ansinnen gegeben, gäbe es, wie im Agrarbereich auch, bei Dienstleistungen nur leere Seiten im Abschlußbericht der Genfer Verhandlungen. So steht hier zwar ein Text, der allerdings noch zahlreiche Leerstellen und Klammern enthält.

Das ist auch der Fall beim Bereich Textil, der von zentraler Bedeutung für eine Reihe von Drittweltstaaten vor allem in Asien ist. Grundsätzlicher Konsens besteht darüber, daß das internationale „Fasernabkommen“ im nächsten Jahr ausläuft und der weltweite Textilhandel ab 1992 Gatt-Regeln unterworfen ist. Jedoch fast sämtliche Details sind nach wie vor umstritten. Dazu gehört vor allem die Frage, ab wann der Handel mit bestimmten Textilprodukten vollständig liberalisiert wird. Die EG drängt auf Übergangszeiten bis zu 15 Jahre. Die wichtigsten Produzenten in Asien, die seit langem auf ungehinderten Zugang zu den westlichen Märkten drängen, wollen Fristen von maximal sechseinhalb Jahren akzeptieren.

Leere Seiten enthält die Beratungsgrundlage für die Minister auch beim Thema „handelsbezogene Investitionsauflagen“. Auch dahinter stehen grundsätzliche politische Differenzen, diesmal entlang der Nordsüdlinie. Aus Sicht der Industriestaaten wurde vor vier Jahren in Punta del Este die völlige Abschaffung derartiger Maßnahmen vereinbart (zum Beispiel der Auflage für einen ausländischen Investor, eine Mindestmenge benötiger Rohstoffe im Investitionsland zu kaufen, produzierte Fertigprodukte aber hauptsächlich in Drittländer zu exportieren). Die Entwicklungsländer sehen in derartigen Auflagen legitime Gegenmaßnahmen eines Nationalstaats gegen den Mißbrauch marktbeherrschender Positionen vor allem von mulitnationalen Konzernen. Sie wollen nur über die Abschaffung solcher Auflagen verhandeln, die tatsächlich zu Handelsverzerrungen führen.