: Karlsruhe zum Trotz: Ayse hat gewählt!
■ Obwohl das Bundesverfassungsgericht Ausländern die Stimmabgabe verwehrt hat, nahmen einige nichtdeutsche BerlinerInnen an der Wahl teil/ ErstwählerInnen aus Iran und Türkei feiern die Premiere mit Sekt/ Momper im Kontakt mit EmigrantInnen
Berlin. Ein Juchzer, ein Küßchen, ein Jubelschrei: »Ich hab' gewählt!!« Nein, keine ehemalige DDR-Bürgerin war da in Verzückung geraten über ihr Kreuzchen bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen, sondern Nuschin, iranische Staatsbürgerin, die seit acht Jahren in Berlin lebt. »Ich habe die Grünen gewählt«, sagt sie nach einer kleinen Atempause, »die sind immerhin für die Ausländer, alles andere kannst du doch vergessen«. Dann fliegt sie einem verdutzten Ostberliner Jungwähler um den Hals. Der litt vor wenigen Minuten noch unter schweren Sehstörungen, war unfähig, einen Wahlzettel auch nur von weitem zu erkennen, und hatte deshalb Nuschin als Vertrauensperson mit in die Wahlkabine genommen — und ihr dort seine Stimme abgetreten.
Letzteres ist laut Wahlgesetz eindeutig nicht vorgesehen. Die Begleitung durch eine Vertrauensperson jedweder Nationalität in die Wahlkabine ist allerdings erlaubt, wenn ein Wähler »des Lesens unkundig oder durch körperliches Gebrechen behindert ist«. Unter dem Motto »Einmischung in die eigenen Angelegenheiten« hatte »SOS-Rassismus Berlin« deutsche Wahlberechtigte aufgerufen, ihr Stimmrecht an ImmigrantInnen abzutreten — und quasi als praktische Handlungsanleitung auf das rechtliche Instrumentarium der Vertrauensperson hingewiesen (die taz berichtete).
Überdurchschnittlich hoch muß die Quote an Hausunfällen in den letzten Tagen gewesen sein. In Wahllokalen in Kreuzberg, Friedrichshain, Neukölln, Wedding, Steglitz und Schöneberg standen WählerInnen mit bandagierten Händen und ließen sich von ihren Vertrauenspersonen die Wahlkarten aus den eingegipsten Fingern ziehen und die Wahlzettel aushändigen, um dann gemeinsam in der Kabine zu verschwinden. In der Kreuzberger Urbanstraße zeigte sich zwar eine Wahlhelferin beim Anblick von zwei Paar Füßen unter der Kabine etwas irritiert, konnte aber durch einen Kollegen gleich beruhigt werden. »Na, die eine hat doch die Hände verbunden.« Schwere Verbrühungen an beiden Händen hatte sich Andrea K. am Vortag zugezogen und deshalb Hatay S. als Vertrauensperson mit ins Wahllokal genommen. »Grüne/AL, weil's das kleinere Übel ist«, antwortete die Deutsche auf die Frage, was sie denn habe wählen lassen. Das Vertrauen zu ihrer türkischen Begleiterin sei allerdings so groß, daß es in der Kabine keiner mündlichen Anweisung mehr bedurft hätte.
Die beiden mußten allerdings einem prominenten Wahlberechtigten den Vortritt lassen: Walter Momper, eingerahmt von rotem Schal, Gattin und Tochter bahnte sich den Weg durch Kameraleute und etwa zwei Dutzend ImmigrantInnen, die ihn mit Schildern »Wahlrecht für alle« und »Wahlfälschung — zehn Prozent der Stimmen werden nicht gezählt« empfingen. »SOS-Rassismus« setzte sich im Autokonvoi zum nächsten Wahllokal am Mariannenplatz in Bewegung, wo behinderte Deutsche und ausländische Vertrauenspersonen von einem größeren Polizeiaufgebot erwartet wurden. Auf seiten der Beamten argwöhnte man offenbar, es könnte sich um eine der von Ex-HausbesetzerInnen angekündigten Störaktionen handeln. Etwas irritiert reagierten dann in Friedrichshain Ostberliner WählerInnen auf die Versammlung vor ihrem Wahllokal. »Die haben wohl nichts zu tun«, raunzte einer. Andere wiederum zeigten sich überrascht darüber, daß AusländerInnen gar nicht wählen dürfen. Die WahlhelferInnen erwiesen sich dagegen äußerst zuvorkommend und erklärten sogar den ausländischen BegleiterInnen das Wahlverfahren. Nur der Leiter des Wahllokals bat um Verständnis, daß weder Presse noch andere Neugierige den historischen Vorgang im Wahllokal stören sollten. »Wissen Sie, daß sind alles DDR-Wähler, die brauchen viel Zeit und Ruhe.« Andrea Böhm
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