: Warum weinte Mozart?
■ Harry Kupfers neuer 'Idomeneo‘
Im dritten Akt von Mozarts Idomeneo singen vier Menschen im Quartett aneinander vorbei: Der tapfere Prinz spricht von Todesängsten, seine Geliebte von ihrer Liebe, die Rivalin von Rache und der König zu den Göttern. Gemeinsam wissen sie nur: „Soffrir più non si può — so viel Leiden kann keiner ertragen. Das klingt wie geflüstert, wieder und wieder, und noch einmal: Soffrir. Geht dann leise los im Fugato, steigert sich zu großem Affekt in schnellen Imitationen. Bricht ab. Pause. Der Prinz geht, und das Orchester schickt ihm einige kleine Seufzer nach.
Ein Ensemble wie dieses gab es noch in keiner Seria-Oper zuvor. Es heißt, Mozart selbst sei, als er das Quartett einmal im häuslichen Kreise mit Freunden sang, in Tränen ausgebrochen und davongelaufen. Warum, ist nicht überliefert. Ein weinender Mozart — das paßt so wenig ins Klischee, daß diese Frage schon viele Federn in Bewegung gesetzt hat. Wie kann eine wohlkalkulierte Akkordfolge, eine plötzliche harmonische Wendung den zum Weinen bringen, der sie erfunden hat? Wolfgang Hildesheimer meinte, da müsse ein „Mechanismus des Unbewußten“ am Werke gewesen sein, weil das Genie sich selbst nicht kennt. Sicher ist immerhin, daß Mozart dies Quartett für das Beste am ganzen Idomeneo hielt, und den wiederum schätzte er von all seinen Opern am höchsten ein.
Neuerdings wird der Idomeneo wieder viel gespielt. Harry Kupfer hat ihn vor sechs Jahren schon einmal inszeniert in Stuttgart, und jetzt zum zweiten Male fürs eigene Haus, an der Komischen Oper in der Berliner Behrenstraße. Es ist, mit einem Wort, eine echte Kupfer-Inszenierung geworden: alle Fragen sind schon im Voraus beantwortet, keine Geheimnisse offengelassen. Sogar das dunkle Quartett im dritten Akt hat eine klare Choreographie: stellt die Jugend auf die eine, das Alter auf die andere Seite. Die jungen Leute eilen umher, gebärden sich heftiger noch als die Musik, ballen sich zusammen, bedrängen den König und rücken ihm zu Leibe, der da an der Rampe ragt wie ein Fels. Denn Idomeneo steht ein für die Macht — er ist schuldig geworden, wie es den Mächtigen eben so geht. Prinz Idamantes aber und die Frauen vertreten eine andere, bessere Zukunft. Sie stehen — egal was sie im einzelnen fühlen und singen — auf jeden Fall immer auf der richtigen Seite der Geschichte.
Doch die Geschichte geht so einfach nicht auf. Wie sehr sie sich auch verausgaben, die drei kommen nicht an gegen den König (Günther Neumann): er ist ihnen überlegen an stimmlicher Statur und an Volumen. Er als einziger füllt, wie es sein soll, die Rolle aus — die anderen erfüllen nur das Konzept der Regie. Nicht etwa, daß sie schlecht singen: Idamante (Andreas Conrad) glänzt als Held, seine Ilia (Juliane Banse) betört mit Wohlklang und erst recht die Elettra (Rebecca Littig) brilliert mit schlanker, schöner Stimme — auch werfen sich alle ganz und gar ins Spiel um Kopf und Kragen. Nur sind die Partien eine Kragenweite zu groß: die Stimmen viel zu jung und zu anmutig für die hochdramatischen Töne, die ihnen abverlangt werden; der Tonfall zu lyrisch für die tödlichen Konflikte, die die Musik ihnen zumutet.
Harry Kupfer hat Mozarts Sturm- und Drang-Oper diesmal demonstrativ mit Jugend besetzt. Außerdem soll es — dezent aktualisiert — ein Lehrstück sein über den Mißbrauch von Macht und über die Wende von einer schlechten zur guten Herrschaft, wobei der Gute dann just in dem Moment schlecht wird, da er selbst nach der Macht greift. Aber abgesehen davon, daß die Musik stürmt und drängt und am Ende ein König abdanken muß, hat das Stück doch noch einiges mehr zu sagen: es geht, ganz intim, um das gestörte Verhältnis zwischen Vater und Sohn (wovon Mozart ja selbst ein Lied singen konnte). Es geht um viel Liebe und um großen Haß. Und außerdem noch um die Ausweglosigkeit von Orakeln: um Katastrophen, die selbst verschuldet und doch unausweichlich sind — um das namenlos Ungeheuerliche, das die Menschen bis in den Traum hinein verfolgt. Eine Schreckensoper mit vier Hörnern, zwei Trompeten und drei Posaunen. Randvoll mit drohender Komtursmusik, voller bangem Herzklopfen vom ersten Ton der Ouvertüre an.
In der Behrenstraße besorgt schon das Bühnenbild die Katastrophe: Es herrscht Krieg. Die Sturmszene und das erste Aktfinale, als das Böse Gestalt wird und an Land kriecht, sind grandios in Szene gesetzt. Überhaupt gelingen Kupfer zwingende Bilder überall da, wo die Musik eindeutig ist: in den Chorszenen, im Liebesduett. Nur fürs Namenlose und für die Rätsel läßt er keine einzige Lücke. Das ist das Fatale an Kupfers allzu großer Genauigkeit, daß er stets in bester pädagogischer Absicht die Phantasie zu fest an die Leine legt. So ist er wieder einmal gescheitert an Mozart — aber das, wie man so sagt, auf sehr hohem Niveau. Man muß sich diesen Idomeneo unbedingt ansehen. Elisabeth Eleonore Bauer
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