Unüberschaubar ist die Form

Giacinto Scelsi (1905-1988) — Ein diskographisches Portrait  ■ Von Frank Hilberg

Eine Erscheinung wie Giacinto Scelsi ist in vielen Hinsichten wertvoll. Nicht nur, weil er Musik von einziartigem Zuschnitt geschrieben hat, so unikat, daß sie sich nicht mit anderen Werken vergleichen läßt. Nicht nur, weil er eine merkwürdige Person war, dessen Eigenheiten viele Selbstverständlichkeiten des Musikbetriebes fragwürdig werden lassen. Sondern auch, weil er die ganze Fachwelt aus dem Tritt gehen läßt. Es ist herrlich mitanzusehen, wie analytisch scharfsinnige Geister ihrer Begeisterung, die Hände ringend, aber der Worte mangelnd, Ausdruck verleihen wollen; wie hilflos schwerblütige Metaphern bemüht werden, um Hörerlebnisse zu fassen, die sie in solcher Intensität schon lange nicht mehr erwarteten.

Dabei war Scelsi gar kein Komponist. Jedenfalls hat er diesen Titel für sich stets abgelehnt, obwohl er sich den entsprechenden Ausbildungen unterzogen hat.

Giacinto Scelsi wurde 1905 in Italien geboren. In seiner Jugend verbrachte er viel Zeit damit, am Klavier Töne anzuschlagen und ihrem Verklingen zu lauschen. Er studierte Komposition bei namhaften Lehrern und lernte das Tonsystem Alexander Skrjabins kennen. 1936 folgt ein Studium der Zwölftontechnik in Wien. Während einer psychischen Krise verfällt er wieder den Leidenschaften seiner Kindheit. Abermals sitzt er stundenlang, tagelang am Klavier und vertieft sich in das Verklingen der Töne.

Diese Passion schlägt sich deutlich in seinen Kompositionen nieder. Ein Blick in das Werkverzeichnis zeigt, daß zwischen 1929 (der ersten verzeichneten Komposition) und 1954 von 37 Werken nur 5 ohne Klavier auskommen. Das ändert sich 1954 schlagartig. Von den 85 Werken die er bis zu seinem Tode im August 1988 noch schreibt, sind nur 3 mit Piano besetzt. Auf diesen radikalen Wechsel werden wir noch zu sprechen kommen.

„Aufgeregte mögen sich enthalten“

Mit den Suiten 9 (Ttai, 1953) und 10 (Ka, 1954) hat Marianne Schroeder (Hat Hut CD 6006) zwei der letzten Klavierwerke eingespielt. Nicht nur die Untertitel verweisen auf Scelsis intensive Beschäftigung mit den Denksystemen des Buddhismus, seine Indienaufenthalte und Yogaerfahrungen schlagen sich auch in der Haltung gegenüber der Musik nieder. Im Text zur 9.Suite heißt es: „Diese Suite muß mit der größten inneren Ruhe gehört und gespielt werden. Aufgeregte mögen sich enthalten!“

Bei jeder der insgesamt 16 Miniaturen, zwischen zwei und fünf Minuten lang, ist ein Klang oder ein einzelner Ton ins Zentrum gestellt. Durch stetiges Wiederholen und Umspielen, durch permanente rhythmische Impulse balanciert der Klang auf der Grenze zwischen vibrieren und verströmen. Es entsteht eine paradoxe Mischung aus unendlicher Bewegung und scheinbarem Stillstand. Die Musik ist nicht gleichförmig, schon gar nicht statisch, zielt aber auch nirgends hin. Sie verblüfft durch ihren ungeheuren Reichtum an Varianten, die aus wenigen Elementen gebildet sind. Marianne Schroeder hat sich die Klangsprache Scelsis zu eigen gemacht. Mit hochkarätiger Anschlagskultur und erstaunlicher Gelassenheit vermag sie den kurzen Sätzen beider Suiten jene Glut einzuhauchen, die — darin sind sich Kenner und Liebhaber Scelsis einig — dieser Musik zueigen ist. Zu bewundern ist der farbige und lebendige Klavierklang dieser Aufnahme; er ist das angemessene Medium um die Bewegungsenergie der Stücke zu transportieren.

Klangfelder

Schon bei den Cinque Incantesimi und den Quattro Illustrazioni für Klavier (beide 1953) deutet sich die Tendenz Scelsis an, mit immer weniger Tönen zu komponieren. Es treten zunächst Zentraltöne hervor, die ein Gravitationszentrum bilden, das von anderen Tönen umspielt wird. Den Nebentönen kommt die Aufgabe zu, Die Haupttöne durch eine jeweils andere Umgebung in verschiedenem Licht erscheinen zu lassen. Wesentlich ist nicht mehr das Denken in thematischen oder motivischen Zusammenhängen, sondern die Darstellung von Veränderungen und Zuständen eines Klanges. Es entstehen Klangfelder, die sich um einen Ton gruppieren.

Suzanne Fournier (Accord 200742) geht die Stücke eher zurückhaltender an. Der Klavierklang wirkt etwas verhangener, rätselhafter, düsterer. Auch heftige Passagen werden von ihr nicht voll ausgespielt, vielleicht um die Sicherheit der Balance nicht zu gefährden.

Der Ton wird zur Fläche

Ab 1954 entsteht eine Vielzahl von Werken für Streicher, Bläser und Vokalisten, aber Scelsi schreibt nicht mehr für Klavier. Die Besetzungsfrage gibt Aufschluß über seine veränderte Kompositionshaltung. Hatte er bis dahin mit den Tönen der Halbtonskala gearbeitet, so bilden jetzt Vierteltöne und noch kleinere Tonabstände das kompositorische Material. Das Klavier, dessen kleinster Übergang zwischen zwei Tönen der Halbtonschritt ist, ist für Scelsis Absichten zu grob. Um subtilere Strukturen komponieren zu können, benötigt er Werkzeuge die Tonhöhenunterschiede stufenlos intonieren können, die quasi zwischen die Töne dringen können und feinste Abstufungen darstellen können.

Es entstehen Eintonkompositionen, Stücke die um einen Ton kreisen und den Umfang einer Sekunde kaum überschreiten. Nun wird der Ton, der einst als ein Punkt ausgefaßt wurde, zu einem Raum, der Bewegungen in alle Richtungen zuläßt. Aber was oberflächlich betrachtet nur das Spielen eines Tones ist, erweist sich als die Gleichzeitigkeit subtiler Prozesse, die den Klang in unzähligen differenzierten Facetten zeigen. Die Musik ist monoton, ganz wörtlich. Hier ist der Verzicht auf die Vielzahl aller Töne zugunsten der Vielfalt innerhalb des einen Tones geleistet.

Bei den Quattro Pezzi per Orchestra ciascuno su una nota sola (Vier Orchesterstücke jedes über nur einen Ton, 1959) schlägt sich dies sogar im Titel nieder. Scelsi orchestriert den Klang eines Tones, blendet Obertöne ein und aus, stellt durch die Farben des Orchesters Verschmelzungen, aber auch Reibungen her. Der Dirigent Jürg Wyttenbach (er hat bei Accord — einem Label, das sich sehr verdienstvoll um Scelsi kümmert — sechs der wichtigsten Orchesterstücke aufgenommen) zeichnet die subtilen Instrumentationskünste Scelsis minutiös nach und läßt den Stücken jene Tiefe zukommen, die sie benötigen, um ihre Intensität zu entfalten.

Monoton — Monochrom

Etwa zur gleichen Zeit, zu der Scelsi in Italien sein Werk für Klavier abschließt um sich der Komposition von Eintonflächen zuzuwenden, entstehen in der New Yorker Malerszene Bilder, die unter dem Begriff der „Monochromen Malerei“ zusammengefaßt werden.

Die monochrome Malerei entwickelt große Farbfelder, die zwar innere Farbbewegtheit erkennen lassen, doch beherrschend ist durchgehend der Eindruck der mächtigen Monochromie. Er verstärkt sich noch durch die Verwendung riesiger Bildformate. Die Maler Barnett Newman, Mark Rothko, Clyfford Still und Ad Rheinhardt verzichten auf Beziehungen innerhalb ihrer Bilder, sie malen keine Formen, Gegenstände oder Gesten, ja sie verzichten sogar oft auf die Abstimmung mit anderen Farben. Diese Bilder haben nur ein Thema: die Darstellung von Farbe. Ihre Maler verstehen sich als Portraitisten der Farbe. Barnett Newman trägt sich selbst die größten Flächen mit dünner Ölfarbe und einem relativ kleinen Pinsel auf. Durch Aufeinanderlegen Dutzender von Schichten erreicht er ein irisierendes Leuchten. Die helle, strahlende Leuchtkraft verursacht optische Täuschungen. Nachbilder beginnen vor den Augen zu tanzen, ein Effekt, als blickte man in eine gleißende Lichtquelle. Die Farbe beginnt zu vibrieren und scheint von der Leinwand abgelöst frei im Raum zu schweben.

Ähnliche Intensitäten erreicht Giacinto Scelsi durch ähnliche Verfahren. Im Trio à Cordes (Streichtrio, 1958) loten drei Streicher ein minimales Tonfeld aus. Durch graduelle Verschiebung der Tonhöhe und durch Umspielen mit Vierteltönen entstehen Interferenzen und feine Schwebungen, die dem Klang Energie verleihen. Durch Gebrauch von Tremoli und Vibrato gerät der Klang ins Pulsieren. Er scheint gleichzeitig zu stehen und zu vibrieren. Dieses Trio liegt in zwei Aufnahmen vor: vom Arditti String Quartet (Salabert SCD 8904-5) und von Zimansky/Schiller/Demenga (Accord 200622). Beide sind hervorragend und eindringlich gespielt. Die Arditti's riskieren mehr, bringen einen bohrenderen Klang hervor, während das andere Trio einen homogeneren, kultivierteren Klang bevorzugt, einen klassischeren Ton, der nicht mehr von den Aufregungen des Neuen bestimmt ist.

Monoton — Monochrom

Auffällig an den monochromen Bildern sind ihre riesigen Formate. Bis zu acht Meter lang und nie unter zwei Meter fünfzig hoch, ist der Betrachter im Bergleich mit ihnen winzig. Das Verhältnis zwischen Betrachter und Bild ändert sich zwangsläufig, denn durch die Ausdehnung des Bildes wird es unüberschaubar. Unüberschaubar ist auch die Form von Scelsis 2. Streichquartett (1961, ebenfalls vom Arditti Quartet eingespielt, es handelt sich bei der Box um eine Gesamtaufnahme der Streichquartette Scelsis). Weil auf eine Gliederung durch Einschnitte oder Kontraste verzichtet wird und die Musik als Kontinuum dahin fließt, bieten sich dem Hörer keinen Orientierungspunkte. Ein Betrachter, der vor einem Bild wie Barnett Newmanns Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III steht, kann den rechten und linken Rand nicht sehen. Er steht vor einer monumentalen roten Ebene. Ein Hörer von Scelsis Musik hat keine Handhabe, um Anfang und Ende des Satzes abschätzen zu können. Sie hat auch nicht Anfang und Ende im Sinne von Auftakt und Abschluß; sie wird vielmehr ein- und ausgeblendet. Der Maler Josef Albers, der ebenfalls mit monochromen Flächen arbeitete, sagte einmal: „Meine Malerei ist meditativ, ist ruhig. Ich suche keine schnellen Effekte. Sehen Sie, das ist es, was ich will: Meditationsbilder des zwanzigsten Jahrhunderts schaffen.“ Eine Absicht, die auch von Scelsi hätte formuliert sein können.

Khoom

Scelsi hat vielen seiner Stücke Titel gegeben, die durch programmatische Untertitel zusätzlich erläutert werden. Seine Musik dagegen hat kaum erzählenden oder handelnden Charakter. Daher verweisen die Titel eher auf bestimmte Ideen oder Metaphern, als illustrative Absichten zu deklarieren. Mit dem Stück Khoom, 1962 für Sopran, Streichquartett, Horn und zwei Schlagzeuger geschrieben, verhält es sich allerdings etwas anders. es trägt den lyrischen Untertitel Sieben Episoden einer ungeschriebenen Erzählung von Liebe und Tod in einem fernen Land. Nun gibt es zwar eine vortragende Person, die Sopranistin, aber das von ihr Gesungene ist nicht verständlich, es bleibt fremd, wie die Sprache aus einem fernen Land. Und die Episoden, von denen die Rede ist, enthalten keine Geschichte, haben keine Handlung im dramatischen Sinne. Sie müssen ungeschrieben bleiben, weil sie sich nicht auf einen Inhalt festlegen lassen. Hervorgerufen werden Zustände und Erfahrungen, die der Liebe und dem Tod entstammen und die bei aller Fremdheit der Musik doch zutiefst vertraute Affekte ansprechen.

Im Mittelpunkt steht die Singstimme, ein kunstvoller Gesang, der in fein ziselierten Linien einen Ton umkreist, der auch von den Instrumenten umspielt wird. Die Klänge verschmelzen ineinander, so daß oft zwischen Instrument und Stimme nicht zu unterscheiden ist. Der Gesang strömt dahin wie ein Geigenton, und die Streicher klingen, als würden sie die Phoneme nachsprechen wollen; beide scheinen wie verschiedene Aspekte der selben Sache zu sein.

Michiki Hirayama, die viele Jahre mit Scelsi zusammengearbeitet hat, gestaltet — zusammen mit dem Arditti Quartet, dem Hornisten Frank Lloyd und dem Schlagzeuger Maurizio Ben Omar unter der Leitung von Aldo Brizzi — die Episoden sowohl in den lyrischen als auch in den dramatischen Momenten mit einer Intensität, die schier an die Nerven geht.

Giacinto Scelsi, der ebenso wie Cage vom Buddhismus inspiriert war, gab wenig auf sein Ego. Weder als ein künstlerisch sich ausdrückendes Subjekt, noch als eine öffentliche Person. Konsequenterweise verzichtete er daher auf den Titel des Komponisten und verbat sich jegliche Photographie. Um Aufführung und Verbreitung seiner Werke kümmerte er sich nicht, ein Umstand, der dazu führte, daß viele seiner Werke erst mit zwanzigjähriger Verspätung uraufgeführt wurden, oder noch gar nicht. Daß Scelsi sem Publikum bislang weitgehend unbekannt blieb, ist daher nicht verwunderlich, aber die einsetzende Flut von Aufnahmen zeigt, daß die Rezeption bereits in vollem Gange ist.

Suite No. 9 (1953), Suite No. 10 (1954); Marianne Schroeder — Piano; Hat Hut CD 6006.

Quattro Illustrazioni (1953), Cinque Incantesimi (1953), Xnoybis (1964), Duo pour violon et violoncello (1965); S. Fournier — Piano, C. Fournier — Violine, D. Simpson — Cello; Accord 200742.

Divertimento No. 3 (1955), Coelocanth (1955), Trio à cordes (1958), Elegia per Ty (1958); L'Ame ailée, L'Ame ouverte (1973); R. Zimansky — Violine, Ch. Schiller — Viola, P. Demenga — Cello; Accord 200622.

Streichquartett No. 1 (1944), No. 2 (1961), No. 3 (1963), No. 4 (1964), No. 5 (1974/85), Trio à cordes (1958), Khoom (1962); Arditti String Quartet, M. Hirayama — Sopran; Editions Salabert SCD 8904-5 (Harmoni Mundi 2 CDs).

Aion (1961), Pfhat (1974), Konx- Om-Pax (1969); Radiosymphonieorchester Cracovie, Leitung: J. Wyttenbach; Accord 200402.

Quattro Pezzi per Orchestra (1959), Anahit (1965), Uaxuctum (1966); Orchester und Chor des Rundfunks Cracovie, Leitung: J. Wyttenbach; Accord 200612.