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Niedersachsens Kommunen torpedieren Bleiberecht

Landesregierung und Städte im Clinch um Aufenthalt für Flüchtlinge aus humanitären Gründen/ Göttinger Stadtverwaltung beruft sich auf das neue Ausländergesetz und will Anträge nicht mehr bearbeiten/ Frist läuft nur noch bis zum 31. Dezember  ■ Von Reimar Paul

Göttingen/Hannover (taz) — Birgit Sacher, Geschäftsführerin beim Göttinger Ausländerbeirat, ist sauer. „Seit fünf Wochen bearbeitet die Stadtverwaltung keine Bleiberechtsanträge,“ beschwert sie sich. „Jetzt muß die Landesregierung einen Staatskommissar einsetzen. Eine andere Möglichkeit, die Rechte der Flüchtlinge durchzusetzen, gibt es nicht mehr.“

Die Rechte der Flüchtlinge sind in einem Runderlaß des niedersächsischen Innenministeriums vom 18. Oktober festgeschrieben. Danach können rund 15.000 AusländerInnen, deren Asyl-Anträge gegenwärtig geprüft werden, unabhängig vom Ausgang ihres Verfahrens ein unbefristetes Bleiberecht erwerben. Dieselbe Regelung gilt für 6.000 sogenannte „De-facto-Flüchtlinge“ in diesem Bundesland — abgewiesene AsylbewerberInnen, die aus humanitären Gründen oder wegen Bürgerkriegen in ihren Heimatländern gegenwärtig nicht abgeschoben werden. Der Erlaß nennt hier ausdrücklich Staatsangehörige aus Afghanistan, Albanien, Iran, Irak, dem Libanon oder Sri Lanka.

Flüchtlinge, die in den Genuß der Bleiberechtsregelung kommen wollen, müssen sich schnell entscheiden. Ihre Anträge können von den Ausländerämtern der Gemeinden nur bis zum Ende des Jahres entgegengenommen werden. Ab 1991 nämlich tritt das neue Ausländergesetz des Bundes in Kraft, das Ausnahmeregelungen, wie den jetzt von der rot-grünen Regierung in Hannover beschlossenen Erlaß, nicht mehr zuläßt.

Doch einige Kommunen und Gebietskörperschaften im Land, an vorderster Front die sozialdemokratisch verwaltete Stadt Göttingen, wollen nicht mitziehen. Sie kündigten an, die ohnehin knappe Frist bis zum 31. Dezember verstreichen zu lassen und keine Bleiberechtsanträge zu bearbeiten. Die Gemeinden fürchten finanzielle Mehrbelastungen und mittelfristig einen „unkontrollierten Nachzug“ von Familienangehörigen der dauerhaft geduldeten Flüchtlinge. So will der Göttinger Rechtsdezernent Hans Peter Suermann für die nächsten vier Jahre zusätzliche Kosten in Höhe von 28,5 Millionen Mark für den Haushalt der Kommune ermittelt haben. Von der Landesregierung wird die Seriösität dieser Kalkulation bestritten. Stimmungsmache gegen Ausländer und „Pfennigfuchserei statt Humanität“ wirft der Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Jürgen Trittin (Grüne), der Göttinger Verwaltung vor. 10.000 Mark, sagt Trittin, erstatte das Land den Kreisen und kreisfreien Gemeinden für jeden Asylbewerber, der ein Bleiberecht erwerbe. Eine Summe, so ergänzt eine „Argumentationshilfe“ aus dem Innenministerium, die „auf der Basis der durchschnittlich zu erwartenden Dauer des Asylverfahrens errechnet worden“ sei. Zusätzliche Kosten entstünden den Kommunen in keinem Fall.

Auch die von Göttinger Lokalpolitikern ins Feld geführte Behauptung, durch die Bleiberechtsregelung kämen mehr Flüchtlinge ins Land, weist Trittin als falsch zurück: „Die von diesem Erlaß betroffenen Menschen gehören zu jenen Flüchtlingen, die hier aus humanitären und Rechtsgründen auch unter der alten Landesregierung geduldet worden wären.“ Geändert habe sich lediglich der Status der Flüchtlinge.

Doch die widerspenstigen Gemeinden wollen so schnell nicht aufgeben. In praktisch wortgleichen Briefen an das Innenministerium in Hannover haben Stadt und Landkreis Göttingen nun auch rechtliche Bedenken gegen die Bleiberechtsregelung angemeldet. Es erscheine fragwürdig, ob der Erlaß mit den Absichten des geltenden wie des zukünftigen Ausländerrechts vereinbar sei und ob die Landesregierung dem „Gebot der Bundestreue“ entspreche. Schließlich habe die Bundesregierung darauf verwiesen, daß Aufenthaltsgenehmigungen für ganze Flüchtlingsgruppen von den Ländern nicht im Alleingang verfügt werden könnten. Gegebenenfalls, fordern die Kommunen, müßten die Gerichte das letzte Wort sprechen.

In Hannover sieht man einer eventuellen Klage „mit großer Gelassenheit“ entgegen. Gleichzeitig ist die Gangart gegenüber den rebellischen Kommunen verschärft worden. Das Kabinett wies die Bezirksregierungen an, die betreffenden Städte im Rahmen der Aufsichtsbefugnis „mit allem Nachdruck“ auf ihre Pflichten aufmerksam zu machen. „Es kann nicht angehen, daß die Göttinger Stadtverwaltung einen Erlaß des Landes einfach ignoriert,“ sagte ein Sprecher des Innenministeriums.

Bei den in Göttingen lebenden AsylbewerberInnen, deren Anträge sich unbearbeitet im Ausländeramt stapeln, wächst unterdessen die Unsicherheit. Sie befürchten, daß die Stadt den Streit um das Bleiberecht tatsächlich bis zum Jahresende hinzieht und die Regelung damit unterläuft. Birgit Sacher vom Ausländerbeirat: „Der Schaden, den die Stadt den Flüchtlingen mit ihrer Kampagne zugefügt hat, läßt sich ohnehin nur noch begrenzen. Die letzte Chance dafür ist der sofortige Einsatz eines Staatskommissars.“ Einen Brief mit dieser Forderung hat der Beirat am Wochenende an Innenminister Glogowski abeschickt.

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