: „Vielleicht tritt ja die UdSSR der Nato“ bei
■ Egon Bahr, sicherheitspolitischer Experte und Präsidiumsmitglied der SPD, wendet sich gegen die EG als militärische Formation/ Sowjetunion und USA müssen dabei sein/ Im Zweifel wäre eine Ausdehnung der Nato bis zur UdSSR besser
Seit der Krise am Golf wird innerhalb der Europäischen Gemeinschaft verstärkt darüber nachgedacht, ob die Wirtschaftsunion EG nicht in absehbarer Zeit auch zu einer außen- und sicherheitspolitischen Union ausgebaut werden muß. Nachdem die europäischen christdemokratischen Parteien während einer Konferenz schon vor dem letzten EG-Sondergipfel entsprechende Forderungen erhoben hatten, hat nun die zur Zeit den Vorsitz führende italienische Regierung einen offiziellen Vorschlag formuliert. Die nach umfassenden Konsultationen unter allen EG-Mitgliedern formulierten Vorschläge sind in einem noch vertraulichen Papier des italienischen Außenministers De Michaelis enthalten, das seit knapp zwei Wochen den 12 Regierungen vorliegt. Darin wird vorgeschlagen, die Westeuropäische Union (WEU) spätestens in einigen Jahren in die EG zu integrieren und auch bestimmte Aufgaben, die jetzt die Nato wahrnimmt, in die politische Kompetenz der EG zu überführen. In einer ersten Reaktion hat die WEU diesen Vorschlag als „absurd“ abgelehnt. Trotzdem soll auf dem kommenden EG-Gipfel in Rom die Frage diskutiert werden und erste Weichenstellungen erfolgen. Nach Informationen der taz gibt es inzwischen im Bonner Auswärtigen Amt erhebliche Bedenken, zumindest gegen eine Beratung des Vorschlags zum jetzigen Zeitpunkt. Im Gespräch mit der taz schloß sich Bahr diesen Bedenken an. Man solle alles vermeiden, was an die Stelle der bisherigen Ost- West-Konfrontation durch die Schaffung einer neuen Formation den Eindruck erwecken könnte, Europa müsse sich gegen die Sowjetunion organisieren oder schützen. Falls die im KSZE-Rahmen angestrebten gemeinsamen Strukturen europäischer Sicherheit nicht zu realisieren sind, sollte die Nato die Voraussetzungen dafür schaffen, sowohl die osteuropäischen Staaten als auch die Sowjetunion selbst zu integrieren.
taz: Der italienische Außenminister De Michaelis hat den Regierungen in Bonn und den anderen elf EG- Hauptstädten vor wenigen Tagen ein Papier zukommen lassen, in dem eine umfassende sicherheits- und militärpolitische Rolle der EG vorgeschlagen wird. Die EG soll danach in den nächsten Jahren die bisherigen Funktionen der Westeuropäischen Union (WEU) vollständig und die der Nato teilweise übernehmen. Das Papier ist Beratungsgrundlage für den EG-Gipfel am 13. und 14. Dezember in Rom, auf dem erste Weichenstellungen in Richtung eines EG-Militärbündnisses vorgenommen werden sollen. Was halten Sie von derartigen Vorschlägen?
Bahr: Die EG darf keine Ersatz-Nato werden. Grundsätzlich nicht, weil die Nato im Augenblick das einzige stabile Sicherheitsinstrument in Europa ist. Aber auch politisch nicht, weil die EG die geschichtliche Aufgabe hat, sich nach Osten zu öffnen. Sie darf ihren Partnern oder künftigen Partnern im Osten eine Zusammenarbeit nicht erschweren. Ganz abgesehen davon, daß ja auch bisher neutrale Staaten wie Österreich oder Schweden sich der EG assoziieren wollen mit dem Ziel einer Mitgliedschaft — auch dies darf nicht durch zusätzliche militärische Organisationsformen der EG erschwert werden.
Auch die SPD strebt eine politische Union Europa an. Die Regierungen in Bonn und in anderen EG- Staaten argumentieren, daß zu einer solchen Union zwangsläufig und selbstverständlich auch ein uneingeschränktes außen- und damit sicherheits- und verteidigungspolitisches Mandat gehöre.
Wenn die EG sich weiter entwickelt, dann wird sie selbstverständlich auch ihre sicherheitspolitischen Interessen zu besprechen oder zu koordinieren haben. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einem militärischen Organ. Das militärische Organ sollte die Nato bleiben, solange nicht gesamteuropäische Strukturen entwickelt werden, die an die Stelle der Nato treten. Aber diese gesamteuropäischen Strukturen werden jedenfalls über die Mitglieder der EG hinausgehen. Mit kommt das so ein bißchen klein- oder provinzeuropäisch vor, einen Klub zu organisieren, der jedenfalls die Amerikaner und die Sowjetunion ausklammert. Europäische Sicherheit läßt sich nur mit Amerika und mit der Sowjetunion garantieren. Beide Supermächte dürfen nicht ausgeschlossen werden.
Würden Sie diese politische Linie auch der sozialistischen Fraktion im EG-Parlament, in dem der ganze Komplex ja bislang kaum diskutiert wurde, sowie den Sozialdemokraten in anderen EG-Staaten, die dort ja zum Teil in der Regierung sitzen, empfehlen?
Die werden ihre eigene Linie festlegen. Es gibt dort sicher Diskussionsbedarf. Aber es muß jedermann klar sein, daß um alles in der Welt jetzt nicht an Stelle der bisherigen Ost-West-Konfrontation eine Formation geschaffen wird, die durch ihre Gruppierung den Eindruck erweckt, als müsse Europa sich gegen die Sowjetunion organisieren oder schützen. Das ist weder mit dem Freundschaftsangebot der Nato zu vereinbaren noch mit dem Pariser KSZE-Vertrag oder mit dem Abkommen, das Deutschland mit der Sowjetunion im Sinne von Kooperation, Sicherheitspartnerschaft und Freundschaft abgeschlossen hat.
Der Pariser KSZE-Gipfel hat deutlich gemacht, daß es für eine gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung auf Basis der KSZE-Strukturen auch unter den osteuropäischen Regierungen immer weniger Unterstützung gibt. Havel, Antall oder Mazowiecki sprachen sich zwar dafür aus, unterstrichen zugleich aber die „große Bedeutung“, die der Nato als „wichtigem Pfeiler“ für eine solche Ordnung zukomme. Gorbatschow scheint mit seiner Forderung, die Nato möge nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages im Interesse einer KSZE-Ordnung zumindest ihre militärische Funktion zurücknehmen, zunehmend isoliert.
Es gibt die Tendenzen zur Isolierung der Sowjetunion. Man muß ihnen entgegenwirken. Es ist nicht möglich, Sicherheit in Europa ohne und gegen die Sowjetunion zu organisieren. Die Sowjetunion muß eingeschlossen werden und beteiligt statt ausgegrenzt werden. Das ist das Beste, was wir politisch zur Stabilisierung der Sowjetunion tun können. Man muß sie binden, solange es sie noch gibt.
Was heißt das denn konkret? Die Regierungen der CSFR und Ungarns erwägen den Antrag auf assoziative Mitgliedschaft in der Nato. Sind Sie für einen Beitritt?
Ja, ohne jede Einschränkung. Jedenfalls ist schon klar, daß diese Staaten sich nicht in den Warschauer Vertrag einsperren lassen, nur damit Europa seine Gleichgewichtsspielereien fortsetzen kann. Ich gehe davon aus, daß Polen einen ähnlichen Weg gehen wird, und halte es für denkbar — jedenfalls nicht mehr für illusionär —, sich vorzustellen, daß die Sowjetunion den gleichen Schritt vollziehen wird. Dann haben wir ein europäisches Sicherheitssystem — das wird dann einen anderen Namen bekommen —, und ich weiß nicht, ob dieser Weg nicht einfacher und schneller ist als die Entwicklung neuer, gesamteuropäischer Sicherheitsinstitutionen, die ich an sich vorziehen würde.
Wie immer eine künftige sicherheitspolitische Struktur aussehen wird — vor dem Hintergrund der aktuellen Golfkrise wird ja auch in der Bundesrepublik verstärkt für den Aufbau einer Interventionsfähigkeit Europas nach außen plädiert. Der jüngste Vorstoß kam vom sicherheitspolitischen Experten der CDU, Lamers, der eine deutsch- französische Eingreiftruppe vorgeschlagen hat.
Die Verfechter derartiger Vorschläge denken an die Interventionsfähigkeit Europas nach außen, noch bevor es Europa gibt. Wir sollten zunächst die Sicherheitsstrukturen für Europa aufbauen, bevor wir an Interventionsmöglichkeiten außerhalb Europas denken.
Das heißt, langfristig schließen Sie das auch nicht aus.
Wenn es ein kollektives europäisches Sicherheitssystem gibt, dann wird in diesem System die Streitkräftestruktur aller Mitglieder — einschließlich der Sowjetunion — in sich ausgewogen sein. Es wird ein Nebeneinander von nationalen Territorialarmeen geben. Ein kollektives Sicherheitssystem verlangt, daß seine Mitglieder dafür sorgen, daß jeder die eingegangenen Verpflichtungen einhält. Neben den Territorialarmeen bedarf es daher einer beweglichen, modernen, auch angriffsfähigen Eingreiftruppe, die dann unter integriertem europäischem Kommando stehen muß. Es bedarf einer Struktur — anders als heute in der Nato —, in der politische Entscheidungen mit Mehrheit getroffen werden können. Ein kollektives Sicherheitssystem darf nicht von der Veto-Möglichkeit eines einzelnen Staates abhängen. Wenn auf diese Weise ein unzerbrechbarer Friede in Europa hergestellt ist, dann wird diese europäische Eingreiftruppe auch für Friedensmissionen der UNO verwendbar sein. Das sollte ihre einzige Verwendung außerhalb Europas sein. Denn Europa hat keine eigenen imperialen Interessen außerhalb Europas zu verteidigen.
Sollte eine solche Eingreiftruppe — angenommen sie existierte bereits — in der aktuellen Golfkrise eingesetzt werden?
Selbstverständlich nicht. Denn dort gibt es ja keine UNO-Friedensmission. Interview: Andreas Zumach
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