: Greifswald: Juristischer Feldzug gegen Atomkraftwerke beginnt
AKW-GegnerInnen aus der Umgebung wollen Wiederinbetriebnahme von Block V verhindern/ Haarsträubende Zustände auf der Baustelle stellen den AKW-Standort Greifswald in Frage ■ Von Gerd Rosenkranz
Berlin (taz) — Die juristische Auseinandersetzung um die Atomkraftwerke in den neuen Bundesländern ist eröffnet: Mit einem Antrag auf Widerruf der Inbetriebnahmegenehmigung für den fünften Block der Reaktorzentrale in Greifswald wollen 18 Bürger und Bürgerinnen aus der Umgebung des Atomstandortes verhindern, daß der Meiler, der nach einem gescheiteren Inbetriebnahmeversuch seit November 1989 stillsteht, noch einmal angefahren wird. Mittelfristig wird das nun gestartete Verfahren mit darüber entscheiden, ob der AKW-Standort Greifswald endgültig kippt oder langfristig weiter bestehen bleibt.
Adressat des Antrags, der am Montag abgeschickt wurde, ist als zuständige atomrechtliche Genehmigungsbehörde das Umwelt- und Reaktorministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin.
Der Vorstoß von Mitgliedern und Sympathisanten der „Bürgerinitiative Kernenergie Greifswald“ stützt sich vor allem auf Paragraph 17 des Atomgesetzes, das seit Juli dieses Jahres auch östlich der Elbe gültig ist. In dieser Bestimmung ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen eine bereits erteilte Betriebs- oder wie in diesem Falle Inbetriebnahmegenehmigung von den Behörden zurückgezogen werden muß.
Dabei geht es insbesondere um die Qualität der Vorsorgemaßnahmen gegen schwere Unfälle, die Zuverlässigkeit der Betreiber, die Fachkenntnisse der Betriebsmannschaften und mögliche Einwirkungen auf den Reaktor von außen, wie Flugzeugabstürze oder Sabotageakte.
All diese Anforderungen sind in Greifswald nach Auffassung der Bürgerinitiative nicht annähernd erfüllt.
Außerdem muß jeder AKW-Betreiber für den Fall eines schweren Unfalls eine sogenannte „Deckungsvorsorge“ in Höhe von 500 Millionen DM nachweisen, aus der mögliche Schäden finanziert werden sollen. Ein solcher Nachweis liegt für den umstrittenen Block V nicht vor.
Der Antrag der Greifswalder AKW-GegnerInnen bezieht sich auch auf das Schicksal des in der Anlage produzierten hochradioaktiven Atommülls. Paragraph neun des Atomgesetzes verpflichtet die Betreiber unter anderem auf eine „schadlose Verwertung“ oder „geordnete Beseitigung“ der strahlenden Abfälle. Nachdem sich die Sowjetunion als Lieferant des Atomkraftwerks seit vier Jahren und bis auf weiteres weigert, verbrauchte Brennelemente aus Greifswald zurückzunehmen, steht die Entsorgung in den Sternen.
Mit dem Bau des fünften Reaktorblocks in Greifswald war vor mehr als zehn Jahren begonnen worden. Es handelt sich um eine weiterentwickelte Variante des sowjetischen Druckwasserreaktors vom Typ WWER-440, der im Westen allgemein als fehlkonstruiert, störfallanfällig und in keiner Weise internationalen Sicherheitsstandards genügend bewertet wird. In Greifswald selbst soll noch in diesem Monat der letzte von vier dieser Schrottreaktoren seine letzte Kilowattstunde Strom liefern.
Auch die modifizierte Anlage — außer Block fünf befinden sich an der Ostseeküste drei weitere im Bau — ist längst von der technischen Entwicklung überholt, weshalb sich seit dem Frühjahr insbesondere die Reaktorbauer von Siemens/KWU die Köpfe darüber zerbrechen, inwieweit die Hinterlassenschaft aus sowjetischer Produktion überhaupt in nach bundesdeutschem Atomrecht genehmigungsfähige Atomanlagen verwandelt werden kann. Aus Block V soll, so die bisher bekannte Planung, nach einem mehrjährigen „Zwischenbetrieb“ die gesamte elektronische Leittechnik wieder herausgerissen und durch Westtechnologie ersetzt werden.
Die Chancen für einen Erfolg des Antrags der AKW-Gegner Innen schätzen westdeutsche Experten als ausgesprochen günstig ein. Das liegt insbesondere daran, daß neben den systematischen Mängeln der Reaktoranlage — kein „Vollcontainment“, mangelnde Vorsorge gegen Brände, indiskutable Notkühlsysteme, kein Schutz gegen Flugzeugabstürze — in den vergangenen Monaten haarsträubende Zustände auf der Baustelle und immer neue Schlampereien der Betriebsmannschaften bekannt wurden. Insgesamt 50.000 Projektänderungen wurden im Verlauf des Baus vorgenommen, ordentlich registriert allerdings wurden sie nicht. Zum Zeitpunkt der Inbetriebnahmegenehmigung (und bis heute), heißt es im Antrag an das Reaktorministerium, existiert „keine vollständige und umfassende Dokumentation über diese Projektänderungen“. Außerdem, zitieren die Antragsteller einen internen Sicherheitsbericht von 1988, seien Anlagenteile immer wieder „leichtfertig und ohne Berücksichtigung des realen Standes der Fertigstellung und der erreichten Qualität freigemeldet“ worden. Ähnliche Klagen über die chaotischen Zustände auf der Baustelle durchziehen bis in die jüngste Zeit praktisch alle offiziellen Berichte zum „Baufortschritt“ der Anlage. Konsequenz: Schon während der bisherigen Inbetriebnahmeversuche traten zahlreiche zum Teil besorgniserregende Störfälle auf, „die durch mangelnde Fachkenntnisse sowie Projekt- und Montagemängel bedingt waren“.
Von den aus Westdeutschland bekannten juristischen Auseinandersetzungen über Atomanlagen unterscheidet sich das bevorstehende Verfahren in Greifswald an einem Punkt ganz fundamental: Die Anti-AKW- AktivistInnen aus der früheren DDR sind bei ihrem Antrag praktisch unabhängig von schriftlichen Expertisen atomkritischer Wissenschaftler. Die kurzfristige Offenheit nach der Wende im vergangenen Winter und die von Bundesreaktorminister Töpfer veranlaßte Sicherheitsüberprüfung in Greifswald haben die Zustände auf der Baustelle beziehungsweise die konzeptionellen Mängel der Anlage in dankenswerter Weise transparent gemacht. So können sich die Antragsteller in ihrem achtseitigen Begehren den Luxus leisten, die seit dem Sommer vorliegenden detaillierten Sicherheitsanlysen (etwa des Darmstädter Ökoinstituts) nichmal zu erwähnen. Zitiert wird praktisch ausschließlich aus Berichten des früheren „Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz“ (SAAS) in Ostberlin und der Kölner „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ (GRS). Beide Institutionen sind der Atomgegnerschaft nicht verdächtig.
Prozeßkostenkonto für alle Atomanlagen in den neuen Ländern: BI Energiewende, Stadt- und Kreissparkasse Greifswald, Nr. 33-3024, BLZ: 13 051 022
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen