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Berlin: Hauptstadt der Obdachlosen

■ Diakonisches Werk meldet 16.000 bis 20.000 Obdachlose/ Mehr als ein Drittel lebt ganz auf der Straße Völliger Zusammenbruch der Sozialeinrichtungen im Winter wird erwartet/ 250.000 DM Nothilfe vom Senat gefordert

Berlin. Zynisch, aber wahr: Einen einzigen wirklichen Vorteil hat die Wiedervereinigung Berlins für die Obdachlosen. Die Stadt hat jetzt S-Bahnstrecken, die so lang sind, daß die Menschen bei Minusgraden wenigstens ein, zwei Stunden lang ungestört im Warmen schlafen können. Ansonsten aber ist die Situation der Wohnungslosen katastrophaler denn je. Gestern schlug das Diakonische Werk Alarm — und sprach provokativ von der »Hauptstadt der Obdachlosen«.

Allein für West-Berlin haben die Experten von Diakonischem Werk und Caritas eine neue Obdachlosenzahl von 16.000 bis 20.000 Männern und Frauen errechnet. Im Vorjahr ging man noch von 12.000 bis 16.000 aus. Davon leben 6.000 bis 7.000 ganz auf der Straße. Der Rest haust mehr oder weniger in Läusepensionen, Asylbehausungen, Heimen und Anstalten. Kenner der Ostberliner Situation gehen zudem von weiteren 4.000 wohnungslosen Menschen in den dortigen Bezirken aus. Zahlen, die Tag für Tag ansteigen...

Pünktlich mit dem Winter zeichnet sich nun im Bereich der Hilfsangebote schon vor dem ersten Schnee totales Chaos ab:

Wärmestuben erleben jetzt schon bei Temperaturen um null Grad einen solchen Ansturm, daß sie schon fünf Minuten nach Öffnung wieder schließen müssen. Die ersten 30 dürfen rein, die nächsten haben Pech. Der Seelingtreff in Charlottenburg hat inzwischen zeitweilig einen stundenweisen »Aufwärm-Schichtbetrieb« einführen müssen.

Die Wärmestuben sind völlig überfüllt. Gestern gab es in ganz Berlin für Männer keinen einzigen Platz mehr, berichtet Sozialarbeiter Pfahler vom Beratungsladen des Diakonischen Werks in der Levetzowstraße. Nur für Frauen gab es noch einige freie Schlafstellen.

Bei der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo stehen abends 100 bis 180 Männer und Frauen Schlange — für eine Stulle. Im Bahnhof leben ganze Gruppen von DDR-Jugendlichen, die sonst nicht wissen wohin.

U-Bahnhöfe, Züge und öffentliche Toiletten werden zunehmend zu Nachtasylen. Je kälter es wird, um so mehr Menschen müssen diese Orte zwangsweise zum Schlafen aufsuchen. Polizei, Wachdienste und BVG führen dagegen einen sinnlosen Kleinkrieg.

Die Sozialarbeit mit den Obdachlosen steht vor dem völligen Zusammenbruch, weil das Personal kaum noch Zeit für Beratung, Gespräche und Gruppenarbeit findet.

Nichts spricht dafür, daß es nicht noch schlimmer kommt: Berlin erlebt derzeit die größte Wanderungswelle seit Kriegsende. Obdachlose Menschen aus allen Himmelsrichtungen, überwiegend aber aus der ehemaligen DDR, zieht die Stadt magisch an, berichten MitarbeiterInnen der Obdachlosenberatungsstellen.

Aus den westlichen Bundesländern wird auch ein Rückstrom von ehemaligen Übersiedlern verzeichnet. Vielen entlassenen Knackis aus der DDR bleibt gleichfalls nichts anderes übrig, als auf der Straße zu nächtigen.

Das Diakonische Werk, das im Bereich Obdachlosigkeit mit der Caritas zusammenarbeitet, forderte gestern vom Senat eine sofortige Nothilfe von 250.000 Mark, um wenigstens den Betrieb in den wenigen vorhandenen Einrichtungen zu retten. Zudem wurde ein Forderungskatalog präsentiert, der mittelfristig an das Problem herangeht. Darin wird dringend eine Expertenkommission gefordert, die ressortübergreifend für die Region Berlin weitere Obdachlosigkeit verhindern soll. Zudem müßten im Ostteil der Stadt neue Angebote aufgebaut werden, um das Chaos im Westen nicht weiter zu steigern. In leerstehenden Häusern in Ost-Berlin sollen »Obdachlosenzentren« entstehen, und alle Bezirke müssen Wärmestuben bekommen. Außerdem braucht Berlin besondere, niedrigschwellige Angebote für Frauen, und Sozialhilfe müsse auch für längere Zeit »auf die Straße« ausgezahlt werden. Nicht hingenommen werden könne auch, daß alleinstehende Obdachlose nicht einmal den Dringlichkeitsvermerk zum Wohnberechtigungsschein erhielten. Bausenator Nagel (SPD) reagiert darauf, wie berichtet, seit langem mit tauben Ohren. Thomas Kuppinger

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