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„Schußwaffen- gebrauchsanwendung“

Berlin (adn) — Honeckers Genossen schweigen, kommt die Rede auf den sogenannten Schießbefehl. Damit hätten sie nichts zu tun, die Entscheidung des Nationalen Verteidigungsrates liege gut dreißig Jahre zurück. Einen Schießbefehl habe es ohnehin nicht gegeben, sondern nur eine „Schußwaffengebrauchsanwendung“, heißt es einhellig, und die Informanten wollen anonym bleiben.

Justizkreise geben sich allerdings damit nicht zufrieden. Sie argumentieren, daß der Schießbefehl eine kollektive Entscheidung des Nationalen Verteidigungsrates war und daß bisher aus keinerlei Dokumenten ein Abstimmungsverhältnis hervorgeht.

Sicherheitsexperten wissen Bescheid. Wenn die Autobahnstrecke Berlin-Strausberg bis zur Abfahrt Vogelsdorf „militärisch abgeriegelt“ war, breitschultrige Männerpärchen so ganz normal konspirativ an der Strecke parkten und eine Autopanne vortäuschten, in der Armeezentrale in Strausberg die Fahne des Staatsratsvorsitzenden wehte — dann tagte streng geheim der Nationale Verteidigungsrat. Die einen sagen, der Rat war so geheim, daß nicht einmal die Mitglieder selbst wußten, daß sie ihm angehörten, die anderen zollen dem Organ noch heute Respekt.

Als am 10. Februar 1960 das Gesetz über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates von der Volkskammer beschlossen worden war und der damalige Erste Sekretär des Zentralkomitees der Staatspartei SED, Walter Ulbricht, den Vorsitz übernahm, war man sich einig, daß dieses Gremium nicht ewig bestehen sollte: „Angesichts der aggressiven imperialistischen Pläne der gegenwärtig in Westdeutschland herrschenden Kreise ist es notwendig, bis zur Wiedervereinigung Deutschlands durch die Bildung eines Nationalen Verteidigungsrates eine einheitliche Leitung der Sicherheitsmaßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen“, heißt es in dem Gesetzestext. Diesem Grundsatz ist man sich bis 1989 „treu geblieben“. Anfang der sechziger Jahre beschloß der Rat den „Schießbefehl“ an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze. Dieses Dokument, das jetzt im Militärarchiv gefunden wurde, ist Ausgangspunkt für den Haftbefehl gegen Honecker.

Aber Honecker fuhr nicht allein zu den Tagungen des Rates, der nach dem Modell der Sowjets geschaffen wurde. In Paragraph eins, Absatz zwei des Gesetzes über die Bildung des Verteidigungsrates heißt es dazu: „Der Nationale Verteidigungsrat besteht aus dem Vorsitzenden und mindestens 12 Mitgliedern.“ Insider wissen zu berichten, daß diesem Gremium ständig der Vorsitzende und dessen Sekretär (in den 60er Jahren Ulbricht und Honecker), der Ministerpräsident, die Sekretäre für Sicherheitsfragen, Wirtschaft und Landwirtschaft sowie der Verteidigungsminister und der Minister für Staatssicherheit angehörten. Aber auch die Vorsitzenden der ehemaligen DDR-Blockparteien (CDU, LDPD, NDPD, DBD) und die ersten Sekretäre der Grenzbezirke waren ständige Tagungsteilnehmer.

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