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Der Weg ist das Ziel

■ Eine Rundreise durch Kanadas Westen

Eine Rundreise durch Kanadas Westen

VONCHRISTOFBOY

Maggie Thatcher wohnt in der Wildnis. Wenn die bullige Diesellok an Number 10 Downing Street vorbeifährt, stößt sie dreimal ihr dumpfes Warnsignal aus — ein Gruß an die Bewohner der kleinen Hütte mit orangefarbenem First und grüner Balustrade. Aber nichts rührt sich. Der Schaffner zieht den Kopf in den Waggon zurück und legt die Zeitung, die er gewöhnlich den Farmern entlang der Bahnlinie zuwirft, wieder auf den Stapel zurück. Des Rätsels Lösung bringt der Blick in den Fahrplan der British Columbia Rail. Number Ten ist das Vermächtnis eines britischen Patrioten, der sich seine Meriten in den Metzeleien des Ersten Weltkrieges verdient hatte und auch danach noch überzeugt war, daß Morden eine stolze Leistung ist. So etwas steht natürlich nicht in der Broschüre. Dort ist von einem honorigen Kriegsveteranen die Rede, der sich in Kanada niederließ und mit seinem Haus allen britischen Premierministern ein Denkmal setzen wollte. Zeichnungen der Schlachtfelder zieren den Giebel seiner Blockhütte. Der Zug hält, wie sollte es anders sein, damit die Fahrgäste Fotos machen können.

Von Milchkanne zu Milchkanne

Im Westen Kanadas — the very far west, wie die Einheimischen immer wieder betonen — gibt es keine Art, richtig zu reisen. Es gibt mehrere. Jede ist in mancher Hinsicht vorteilhafter als eine andere. Der Fahrtwind, der an der Antenne zurrt, der Rausch der Schnelligkeit, der einen packt, während der Chevy mit vorgeschriebenem Tempo 90 den Highway entlangzuckelt, das ist eine Art, die Provinz British Columbia zu durchqueren — die klassische mit viel On-the-Road-Romantik, die spätestens nach den ersten hundert Meilen schnurgerader Straße durch eintönige Nadelwälder unter die Räder kommt. Auf dem Mountain Bike sitzen, die Paßstraßen hinaufschwitzen, den Plattfuß flicken, herausholen, was an Kraft in jedem Muskel fehlt — auch dies ist Reisen in Westkanada. Denn für ein Land, das viermal so groß ist wie die Bundesrepublik, gibt es nur eine Formel: Der Weg ist das Ziel.

Abzuraten ist allerdings von einer Art der Fortbewegung, die doch sonst die Intensität des Erlebnisses zu garantieren scheint, hier aber nur zu Frustrationen führt — das Wandern. Wer seinen Rucksack schultert und sich auf den Weg macht, wird schnell merken, wie der Traum von unendlicher Weite in nervtötende Langeweile umschlagen kann. Vor allem dann, wenn andauernd hilfsbereite Kanadier ihre Wagen mit quietschenden Bremsen zum Stehen bringen und nachfragen, ob etwas nicht in Ordnung sei.

Am gemächlichsten geht es mit der Bahn voran. Von Milchkanne zu Milchkanne arbeitet sich die Diesellok vor. Von Vancouver durch die Coast Mountains führt die Strecke in das Tal des Fraser Rivers weiter nach Norden ins Cariboo Country, in das Land der grasenden Rinder und lebendigen Goldrausch-Legenden. Der Schaffner mit goldbetreßter Schirmmütze, die mit dem Schriftzug Conductor geschmückt ist, hat hier eher die Aufgabe, den Landschaftserklärer zu spielen. Wer zwischen Rührei mit Speck und Kaffeeausschank im Viertelstundenrhythmus nicht gerade auf dem Bordklo hockt, kann einen Blick auf die Landschaft erhaschen — manchmal hält der Zug, um allen Reisenden Zeit für eine Dreiminutenverzückung vor einem Wasserfall oder einem Gletschersee zu gönnen.

Wo der Goldrausch Spuren hinterließ

Spätestens in Quesnel sollte man den Zug nach nirgendwo verlassen und den Rest der Reisegesellschaft der bösen Anstrengung des Bummelns allein überlassen. Quesnel wirkt so trist und wurzellos wie ein frisch geschlagener Baum, und hier liegen viele abgesägte Stämme. Die Tatsache, daß der Holzumschlagplatz mehr als ein paar armselige Hütten versammelt hat, macht aus Quesnel zwar noch keine Stadt, aber so etwas wie ein urbanes Holzfällercamp. Von hier führt eine Stichstraße zu einem historischen Ort kanadischer Pioniergeschichte, ohne den es vielleicht die gesamte Zivilisation zwischen Vancouver und dem 800 Kilometer entfernten Prince George bis heute zu nichts gebracht hätte. Für das Bretterdorf Barkerville ließ das Königliche Pionierkorps der britischen Kronkolonie 1863 eine 700 Kilometer lange Schneise durch das unwegsame Terrain schlagen. Die Straße Richtung Norden galt damals als erstrangige Errungenschaft und ist noch heute die Hauptverbindung nach Norden. Gebaut wurde sie einzig und allein, um den Heerscharen von Abenteurern die Strapazen zu erleichtern, die ihnen bevorstanden, als sie — vom Goldrausch gepackt — aufbrachen, um fast das ganze Flußbett am Williams Creek bei Barkerville von unten nach oben zu kehren — auf der Suche nach dem Metall, das ihr Leben vergolden sollte.

Barkerville ist ein großer Ort, besonders wenn niemand da ist. Wie schön es sein kann, ohne den Touristenrummel des Sommers, ohne organisiertes Goldwaschen, ohne Postkutschentouren und Wild-West-Dekoration auszukommen. Doch auch jetzt fällt es noch ein bißchen schwer, sich das Museumshafte wegzudenken und sich eine wirkliche Goldgräberstadt vorzustellen. In der Stille der Nachsaison kann es eher gelingen, sich vorzuträumen, wie die Menschen die rauhe Natur gebändigt haben, um ihr das Gold abzupressen. Der Bach, in ein Korsett aus Kanälen gezwängt, das Tal kahlrasiert von jedem Baum, der sich irgendwie als Baumaterial oder wenigstens als Brennholz eignete, die Wälder im Hinterland leergewildert. Das Prinzip der Pioniere, die Natur als Gegner zu betrachten, wiederholt sich heute in der hemmungslosen Ausbeutung der Holz- und Erdölressourcen. Die Wunden, die man der Natur dabei zugefügt hat, werden eilig übertüncht. Der Nadelwald um Barkerville hatte fünfzig Jahre Zeit nachzuwachsen. Die Goldgräberstadt kann sich jetzt zur Postkartenidylle herausputzen.

Während des Cariboo-Goldrausches um 1860 waren Barkerville und Wells die größten Siedlungen nördlich von San Francisco. Heute ist Wells ein verschlafenes Nest, das auf die Busse der Goldminenbesucher wartet. „Yes, we're open“ lockt das Schild am „Ginger Yar“, einem Motel-Restaurant, das zum Glück auch etwas anderes auf der Speisekarte führt als Ingwermarmelade. Der Wirt ist von der Sorte überfreundlicher Kanadier, die einem nach fünf Minuten das Herz über Familie und Beruf ausschütten. „Ja, im Sommer lohnt sich das Geschäft, dann kommen die Leute wegen der Attraktionen ins Tal“, erzählt er. Wie diese Sehenswürdigkeiten aussehen, weiß der Hotelbesitzer bis heute noch nicht. Für Naturschauspiele und historische Museen hat er keine Zeit, er muß in der Küche stehen und Muffins aufwärmen.

Verlogene Hymnen auf die Abgeschiedenheit

Vielleicht ist ihm angst und bange vor dem Panorama hinter seinem Haus geworden, nachdem er den schwärmerischen Schilderungen seiner Gäste gelauscht hat. Denn die Städter und Vorstadteinsiedler, die an den Busen der Natur fahren, neigen schnell zur Übertreibung, die mit jedem Satz die Ruhe, die gute Luft, die Aussicht und die Erholung herausstreicht. Während der Hotelier keine Natur, sondern Bauplätze für Bettenburgen sieht, der Holzfäller keine Natur, sondern Kahlschläge und Fallwinkel sieht, der Farmer keine Natur, sondern Weideflächen sieht, bleibt dem Tourist die Hymne auf die Abgeschiedenheit. Da er bis dahin nichts Vergleichbares gesehen hat, flüchtet er sich in den Vergleich: leuchtendrote Sonnenuntergänge vor imposanter Bergkulisse wie..., tosende Wasserfälle wie..., die gleißenden Schneeflächen wie... Dem Vergleichenden bleibt gar keine Zeit, das Einzigartige der Landschaft zu genießen, weil er darin versunken ist, Ausdrücke für seine Sprachlosigkeit zu finden. Oder er fingert am Verschluß seiner Kamera. Das einhunderttausendste Bild vom Maligne Lake.

Im Kampf gegen die Natur

Der malerische See liegt im kanadischen Teil der Rocky Mountains. Auf dem Weg dorthin muß die Straße den Rogers-Paß im Glacier National Park überwinden. Warnschilder verbieten wegen Lawinengefahr das Anhalten. In der Informationsblockhütte auf dem Paß zeigt die Parkverwaltung einen Videofilm über den Kampf gegen die Lawinen. Im Glacier National Park wird scharf geschossen. Die Lawinenbeobachter lassen in besonders lawinengefährdeten Regionen die Armee anrücken, die dann 105-Millimeter-Granaten gegen die Bergkuppen feuert und damit die Lawinen auslöst.

Schon wieder das Wort Kampf. Es wird nicht das letzte sein auf der Fahrt durch die Rockies. Allerorten ist von „Battle against Nature“ die Rede. Stolz verkünden Schilder, wie Straßenbautrupps, Schienenverleger und Sprengmeister diesen Berg und jene Schlucht bezwungen haben. Von der kaum hundert Jahre zurückliegenden Pionierzeit, in der sich die Natur auf Schritt und Tritt als ärgster Feind darstellte, ist bis heute die Arglosigkeit im Umgang mit der Landschaft geblieben. Sobald man die streng geschützten Nationalparks verläßt, breiten sich die Spuren menschlicher Ignoranz gegenüber den natürlichen Ressourcen aus.

Viele Orte haben sich noch nicht entschieden, was sie sein wollen: Nest oder mittlere Kleinstadt. Also nimmt beim Bau niemand Rücksicht auf die Umgebung: Wie ein Geschwür breiten sich Tankstellen und Schnellrestaurants aus. Direkt daneben schließt sich der Parkplatz der unvermeidlichen Mall, dem Alleskaufladen, an. Möglichst weit weg davon zimmern sich die Kanadier ihre Holzhäuser. Gesichtslose Orte, die nur eines im Sinn haben: Flächenfraß. Nichts in den westkanadischen Siedlungen spiegelt auch nur annähernd die Naturschönheiten, von denen sie umgeben sind. Aber wie sollen Umweltschutzgruppen gegen diese Zersiedelung argumentieren, wenn sich hinter den Wohngebieten die Bären und Elche gute Nacht sagen? Wie sollten die Kanadier einsehen, daß ihr billiger Brennstoff Holz beim Verfeuern die Luft verschmutzt, wenn vom sauren Regen allenfalls Gerüchte über Schäden im Osten Kanadas kursieren?

100 Mile House heißt so, weil niemand auf dem Weg zum Gold Zeit hatte, den Postkutschenstationen phantasievollere Namen zu geben. 99 Mile House folgt auf 75 Mile House. Einkaufen geht man im 108 Mile Store. Da die Hügelkette um die hundertste Meile etwas höher liegt als der Rest, hält sich der Schnee hier häufig bis in den April.

Auf dem Columbia Icefield in den Rocky Mountains umfängt einen eine unbeschreibliche Stille. Wenn kein Wind weht, ist das Nichts zu hören. Im Eis erstarrt, ragen die Giebel des Paß-Hotels und der Tankstelle aus meterhohem Schnee. Closed until May. Im Sommer werden sich wieder die Kolonnen der Camper und Busse von Banff über den Icefield Parkway nach Jasper schieben. Dann wird alles brav an den ausgewiesenen Aussichtspunkten anhalten und an den angegebenen Kurzwanderstrecken zu den fünf Minuten entfernten Sunwapta Falls pilgern oder am Rand des Albert Canyons entlang schlendern. Für den wagemutigen Winterurlauber bietet sich jetzt ein seltenes Erlebnis. Mit einem Führer kann man auf dem zugefrorenen Bach in den Canyon hineinkraxeln, um die zu Eis erstarrten Wasserfälle, Kaskaden aus glitzernden Eiszapfen, zu bestaunen. „Gehen Sie wie ein Astronaut auf dem Mond“, erklärt der Führer, aber da niemand in der Gruppe jemals auf dem Mond war, endet der Moonwalk auf dem Eis jedesmal mit einem Ausrutscher. Abenteuer heißt so etwas wohl.

Wechselhafte Sehnsucht

Am Ende einer Rundreise durch Westkanada steht Vancouver, Halbmillionenstadt an der Mündung des Fraser Rivers in den Pazifik. Mit kühnen Konstruktionen aus Beton und Glas. Mit der schönen Häßlichkeit aller Großstädte. Mit der zweitgrößten chinesischen Gesellschaft in Nordamerika und entsprechend vielfältiger Küche. Eine Stadt, der man Straßenzug um Straßenzug ansieht, daß sie sich nichts daraus macht, noch in den Kinderschuhen zu stecken. Wer ehrlich mit sich ist, wird aufatmen, die Menschenmenge, die sich zwischen den Wolkenkratzern durchdrängt, umarmen wollen und froh sein, wieder in die Zivilisation eintauchen zu können. Wer noch ehrlicher mit sich ist, wird vielleicht feststellen, daß ihn nach drei Wochen die schier unendliche Weite der Landschaft zu langweilen begann, weil sich in ihrer Ausdehnung mitunter auch die Leere dieser Landschaft mitteilte. Nach drei Wochen Stadtleben wird das genau umgekehrt sein. Dann gilt die Sehnsucht wieder der unberührten Natur. Bis zum nächsten Urlaub.

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