: „Das hier ist ein Familiendrama“
Mordprozeß in München: BMW-Topdesigner ersticht seinen erwachsenen Sohn/ Berichterstattung in der Presse spricht ihn schon vor dem Prozeß frei/ Angeklagter wird mit Samthandschuhen angefaßt: Klassenjustiz?/ Richter spricht mildes Urteil für Totschlag ■ Aus München Luitgard Koch
Es gibt Eltern, die machen sich ein Bild von ihren Kindern, haben Vorstellungen, was aus ihnen werden soll und halten daran auf Biegen oder Brechen fest. Der 57jährige BMW- Chefdesigner, Claus Luthe, scheint da auf den ersten Blick anders. Für seinen erstgeborenen Sohn Ulrich hatte er keinen festgefügten Lebensentwurf parat. Obwohl der schwer religiöse Mann am ersten Prozeßtag erklärt: „1956 kam unser Wunschkind auf die Welt“ und damit seinen Sohn Ulrich meint. Ihn, den 33jährigen, hat der Vater am Karfreitag diesen Jahres mit acht Messerstichen ermordet. Deshalb stand der Topmanager eine Woche lang vor dem Schwurgericht des Münchner Landgerichts I. Wegen Totschlags wurde er gestern zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Auf Totschlag steht normalerweise eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Doch bereits die Staatsanwältin hatte in ihrem Plädoyer dreieinhalb Jahre gefordert, während die Verteidigung auf Freispruch oder zumindest eine Bewährungsstrafe plädierte. In sich zusammengesunken, blaß, grau im Gesicht und mit leiser Stimme erzählt der Vater im neonkalten Gerichtssaal von seinem Leben und seiner Beziehung zu seinem Sohn. Reglos sitzt der in Wuppertal geborene Sohn eines Möbelschreiners auf der Anklagebank. Immer wieder taucht in seinen Schilderungen das Wort „schön“ auf. „Ich kann mich an eine schöne Kindheit erinnern“, erzählt er, obwohl sein Vater sehr früh in den Krieg mußte und er 1943 den „Bombenteppich“ angstvoll in einem Keller überlebte. Den Familienverband erlebt er als starke Festung. Wer hier jedoch als erster massiv ausbricht, ist gerade sein Lieblingskind. „Ich will nicht so leben wie du“, erklärt ihm der Sohn. Der Vater nämlich hat Karriere gemacht auf Kosten seines Privatlebens. „120 Überstunden im Hauptmonat, aber am Wochenende war's immer schön“, erzählt der Vater vor Gericht.
Die anderen Kinder fügen sich geradlinig ein, nur Sohn Ulrich nicht. „Es war ja bekannt, daß Ulrich unser Sorgenkind war“, meint Claus Luthe versteinert auf seinem Platz mit leiser Stimme. Lebendiger wird er zum ersten Mal, als er von der Mordnacht redet. „Ich weiß nicht, ich glaube, ich habe gestochen“, hebt er beschwörend die Hände. An die Tat selbst, wie er mit dem Jagdmesser achtmal auf den im Bett liegenden schlaf- und alkoholtrunkenen Sohn einstach — kann er sich nicht mehr erinnern. „Es war eine Aufführung, wie er sie bis dahin noch nie geliefert hat“, gestikuliert Claus Luthe fast heftig, um dem Gericht das Benehmen seines Sohnes zu verdeutlichen. In einem psychologischen Gutachten wird Claus Luthe bescheinigt, daß er dazu neigt, seine Aggressionen zu unterdrücken, gleichzeitig über eine niedrige Frustrationstoleranz verfügt und nicht zuletzt aus diesem Grund ein hohes Agressionspotential besitzt.
Über seinen Sohn Ulrich ist er enttäuscht. Ulrich nämlich trinkt seit längerem, wird drogensüchtig, lebt in Kommunen, beschimpft den Vater als Kapitalistenschwein. Der Vater jedoch ist ihm immer auf den Fersen. Selbst in den „Steinbruch“, in dem er mit der „Kommune“ lebt, folgt ihm der Vater. Die Mutter weigert sich mitzukommen. Sie hat zusammen mit Claus Luthe studiert. Als der Sohn Ulrich geboren wird, gibt sie ihr Studium und ihr Berufsleben auf. Mitte der 60er Jahre erkrankt sie an multipler Sklerose. Gleichzeitig bekommt Ulrich den ersten Schulstreß. Aber erst 1971 wird die Krankheit der Mutter eindeutig festgestellt. Als die Krankheit jedoch einen Namen hat, darf nicht darüber gesprochen werden. „Wir haben abgesprochen, nicht darüber zu sprechen“, so Claus Luthe vor Gericht. Ein Tabuthema mehr in der Familie. Sie, die Mutter, war ihrem Sohn gegenüber skeptischer, glaubte nicht daran, daß er sich ändern werde. Vor Gericht zeichnet sie das Bild eines arbeitsscheuen Alkoholikers. Früher einmal hätte sie ihren Sohn geliebt, doch später nicht mehr. „Geben Sie mir meinen Mann zurück“, fleht sie Richter Alert unter Tränen an.
Bevor sich Frau Luthe auf die Zuschauerbank setzt, dreht sie sich um und flüstert den Journalisten zu: „Süße Presse.“ Das hat seinen Grund. Die Boulevardpresse berichtete vor dem Prozeß ausführlich über den „Fall Luthe“. Tenor: Armer Vater, wer kann es ihm verübeln, einen solchen Sohn getötet zu haben? Daß der rechtschaffene Mann es jedoch tat, ist Strafe genug. „Aufgrund einiger Presseberichte könnte man meinen, daß die Hauptverhandlung überflüssig ist“, kritisierte deshalb bereits zu Beginn des Prozesses verärgert Richter Alert. Doch es gibt auch andere Stimmen. „So geht's doch nicht“, schüttelt ein Zuhörer den Kopf, als der junge dynamische Verteidiger, Anselm Thorbecke, immer wieder die Schuldunfähigkeit seines Mandaten, untermauert durch psychologische Gutachten, zu beweisen sucht. Die Frage, ob Claus Luthe im Affekt gehandelt hat, kann nicht hinreichend beanwortet werden. „Haben Sie nicht gesagt, mein einziges Problem ist der Sohn?“ will der Topdesigner bei der Verhandlung von dem Therapeuten wissen, zu dem ihn sein Hausarzt schickte. Auch für Ulrich Luthe hatte sich der Hausarzt um einen Therapieplatz bemüht. Nicht ohne Grund weit von der Familie entfernt. Selbst die „Anonymen Alkoholiker“, an die sich Claus Luthe wandte, empfahlen ihm: „Schmeiß deinen Sohn raus!“ Doch Claus Luthe kann nicht loslassen.
Freilich hat dieser Prozeß noch eine weiteren Aspekt. Das Stichwort „Klassenjustiz“ fällt nicht nur in Journalistenkreisen. Claus Luthe verbrachte seine Untersuchungshaft hauptsächlich im Bezirkskrankenhaus Haar. Aufgrund der Suizidgefahr sei er haftunfähig. Und selbst beim Plädoyer ist die junge Staatsanwältin, Gerlinde Nieder, sehr vorsichtig, als sie das Thema „Haftempfindlichkeit“ anspricht. Bei BMW selbst wird dem Topdesigner der Sessel freigehalten.
Bei der Urteilsverkündung entschuldigt sich deshalb Richter Alert fast für das Strafmaß. „Das Schwurgericht ist sich der menschlichen Tragik bewußt, von der dieser Fall geprägt ist“, betont der Richter. Aber es müsse auch gesehen werden, daß „es sich bei dem tabletten- und alkoholabhängigen Ulrich Luthe um einen Kranken handelte, der durch die Tat sein Leben verloren hat“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen