: Kopf-in-den-Sand-Politik?
■ Keine Vorbereitungen in Bonn auf mögliche Ausreisewelle aus der Sowjetunion
„An Spekulationen beteiligen wir uns grundsätzlich nicht.“ Sehr viel mehr als abwiegelnde Aussagen sind zu der Frage, ob sich deutsche Regierungsstellen auf eine mögliche Ausreisewelle aus der Sowjetunion vorbereiten, aus dem Bonner Innenministerium nicht herauszulocken.
Daß die Bundesrepublik in die erste Reihe derjenigen westeuropäischen Länder gehört, die nach Einführung der Reisefreiheit für Sowjetbürger besonders attraktiv sein könnten, läßt sich leicht ausrechnen. Von konkreten Überlegungen, wie man mit dem Problem umgeht, wenn vielleicht Tausende von Menschen ins Wirtschaftswunderland BRD Einlaß begehren, will man jedoch weder auf Bundes- noch auf Länderebene etwas wissen.
Sicher werde auf EG-Ebene darüber gesprochen, heißt es aus Bonn, denn schließlich handele es sich um ein europaweites Problem. Außerdem sei nach den jüngsten Informationen, so das Bundesinnenministerium, noch gar nicht ausgemacht, daß das Reisegesetz für Sowjetbürger schon jetzt in Kraft tritt. Man rechne eher mit einem Termin im Sommer. Ansonsten setze die Bundesregierung auf die jüngst vom Innenministerium vorgelegte Flüchtlingskonzeption. Kernpunkt dieser Konzeption: Das Flüchtlingsproblem müsse in erster Linie durch finanzielle Hilfen an die jeweiligen Herkunftsländer gelöst werden.
Daß dieses Konzept auf Langfristigkeit setzt und kaum verhindern kann, daß Menschen in Osteuropa und speziell in der von Hunger bedrohten Sowjetunion schon in diesem Winter ihre Koffer packen, daß weiß man auch im Bonner Innenministerium. Dennoch beharrt man auf der Aussage: Konkrete Vorbereitungen gibt es nicht. Von geheimen Krisenstäben könne keine Rede sein.
Doch diese öffentlichen Erklärungen über die bisherige Untätigkeit haben möglicherweise einen ganz bestimmten Hintergrund. „Wenn es Vorbereitungen auf eine Einreisewelle gäbe, würden wir den Teufel tun, sie bekanntzumachen. Denn das wäre schon eine halbe Öffnung der Tür“, heißt es übereinstimmend aus zwei Bundesländern.
Ein Sprecher einer Flüchtlingsgruppe vermutet eher eine andere Strategie: „Die in Bonn stecken den Kopf in den Sand und hoffen, daß die Flüchtlinge schon vorher in einem anderen Land hängenbleiben.“ Tatsächlich kann die Bundesregierung darauf hoffen, daß die Transitländer Polen und Tschechoslowakei den bereitwilligen Puffer spielen. Sie kann darüber hinaus über die deutsche Botschaft in Moskau ein Ventil schaffen.
Schleppende Arbeitsweise bei der Visaerteilung und die Verknüpfung der Einreiseerlaubnis mit einer Einladung aus der Bundesrepublik oder der Vorlage eines bestimmten Geldbetrages könnten dafür sorgen, daß Sowjetbürger mit ihrem Paß noch lange keine Reisefreiheit in die Bundesrpeublik haben. Ve.
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