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Identifikationmit dem Angreifer

■ betr.: "Chance vorläufig verspielt", von Udo Knapp, taz vom 5.12.90

betr.: „Chancen vorläufig verspielt“ von Udo Knapp,

taz vom 5.12.90

Udo Knapp ist unbedingt zuzustimmen. Die Grünen könnten seit Jahren eine 30-Prozent-Partei sein. [...] Dies wurde unter anderem deshalb nicht realisiert, weil a)ein Teil der Partei nach Kuba und Libyen wallfährt wie andere Menschen nach Mekka oder Puna und b)eine so hervorragende positive Streitkultur herrscht, daß sich ungemein viele Menschen strikt weigern, sich zerfleischen zu lassen (ein viel zu niedlicher Ausdruck für das, was da vor sich geht).

Ein dritter Punkt ist, daß es ja so cool ist, zu einer (welcher auch immer) Avantgarde zu gehören, und so schrecklich, der allgemeinen Menschheit anzugehören, einer Mehrheit womöglich, die interessiert wäre, bei und mit den Grünen zu arbeiten, ohne ein vorhergehendes Karatetraining absolvieren zu müssen. Da eine Einsicht aber weder von „radikalen Ökologen“ noch von „realen Macht“politikern zu erwarten ist, wäre die Alternative, daß das Bündnis90 bundesweit antritt, vielleicht wirklich empfehlenswerter. Wenn die Grünen auf ihre eigenen Mehrheitsmöglichkeiten so vehement verzichten, nehmen vielleicht andere diese wahr. Reinhard Strauß, Berlin

Udo Knapp, seines Zeichens Befürworter eines Einsatzes der großdeutschen Bundeswehr am Golf, schreibt zur Zukunft der Grünen nach der vernichtenden Wahlniederlage: „Mit der Einheit Deutschlands und Europas ist auch das Zeitalter überkommener Politikmuster aus den letzten 100 Jahren zu Ende. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme stellt den sozialdemokratischen Parteien im Westen die Frage: Was bleibt von der sozialistischen Idee nach dem Wegfall des Staates als Hauptheilsarmee und des Wachstumsoptimismus?“

Bleibt die Gegenfrage: War der Staat jemals „Hauptheilsarmee“ oder nicht doch das Gegenteil, waren die Heilshäppchen nicht doch nur der etatistisch-reformistische Versuch, die Menschen derart in das kapitalistische System zu integrieren, daß sie nicht länger opponieren? An dieser Stelle verfällt Knapp einem so einfachen psychologischen Mechanismus, daß es verwundert, daß er ihn nicht bemerkt: Bei Knapp tritt anstelle einer Reflexion über Sozialismus heute, der die Verknöcherung eines Leninismus abwirft, das, was psychologisch als „Identifikation mit dem Angreifer“ bezeichnet wird. Der Fehler, in den der Leninismus mit seinem Staatsverständnis, mithin mit seinem autoritären Sozialismus verfiel, vollendet sich bei Knapp in der Ablehnung des Sozialismus und der Unterwerfung unter die kapitalistischen Verwertungsbedingungen.

Derart und vor dem Hintergrund der Transformation der grünen Partei zur systemintegrativen und -modernisierenden Kraft muß Knapp zwangsläufig die Möglichkeiten außerparlamentarischer und antiinstitutioneller Teilbewegungen ausblenden. Knapp ist auf seinem langen Marsch beim Bündnis mit der FDP angekommen. Herzliches Beileid! Jörg Rensmann, projekt archiv, Arend Wellmann, Sozialreferat AStA FU, Berlin

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