: Wenn Gröger geht, wird reformiert
■ Porträt des Seniorenheimbewohners als später Kämpfer
Erich Gröger ist ein aufsässiger Alter. Der stille schriftliche Protest liegt ihm jedoch nicht. Und auch nicht die Form abwägender Kritik. Er greift, um sich Luft zu machen, zu drastischen Worten und drastischen Mitteln. Das Seniorenheim Lerchenweg im Berliner Stadtteil Tempelhof, wo er bis vor kurzem lebte, nennt er ein »Straflager«. Er sagt »Straf-la-ger«, in der Annahme, daß ein Mensch wie er nur gehört wird, wenn er sich mit äußerstem Nachdruck in höchster Lautstärke artikuliert.
Im Frühsommer dieses Jahres reichte es Erich Gröger wieder einmal mit dem Leben, das ihm im Seniorenheim geboten wurde. Er stellte sich mit einem Transparent um den Leib tagelang vor dem Rathaus auf — ein 65jähriger, einzeln kämpfender Protestler. Da Erich Gröger in seinem Leben um Bildung betrogen worden ist, protestieren aber auch gelernt sein will und ihm nichts Radikaleres bekannt war, trat er auch gleich in den Hungerstreik. Drei Tage hielt er den durch und unterstützte sich mit Vitaminbonbons.
Daß er seine zornigen und aktionistischen Impulse nicht zensiert, hängt nicht nur mit dem ärztlich attestierten schlechten Zustand seiner Nerven zusammen. Seine Unbeugsamkeit geht von der Überzeugung aus, daß ein Mensch, der nach einem durch und durch enttäuschenden Leben von dessen letztem Kapitel nicht mehr erwarten könne, als dreimal am Tag ernährt, mit 190 Mark Taschengeld im Monat abgespeist und vergessen zu werden, nichts mehr zu verlieren habe, eben auch nicht bürgerliches Ansehen.
Der Text auf Erich Grögers Protest-Transparent war ungelenk und provokativ, und er entsprach damit den persönlichen Auftritten und Ausbrüchen, die er seinem Ruhesitz am Lerchenweg, einem Ort für alte Leute mit schwacher Finanzkraft, schon geboten hatte: »Bin im Hungerstreik... In diesem Heim werden Gesetze und Vorschriften von der Heimleiterin Frau Schütt und dem ersten Geschäftsführer Herrn König mit Füßen getreten. Die Mißstände sind den Behörden und Parteien lange bekannt. Folge: Der Heimbetreiber hat immer recht. Über die Mißstände darf ich im Heim nicht diskutieren. Bei Zuwiderhandlung fristlose Kündigung. Und die Behörden machen dieses Spiel mit. Nun bin ich im Heim ein Aufhetzer, Unruhestifter, Stimmungsmacher usw. Im Seniorenheim zu leben ist eine Strafe. Zu allem ja und amen sagen zu müssen. Nein! Nein! Nein! Ich kann das nicht.«
Einzeln betrachtet, könnten Erich Grögers Klagen über das Heim Lerchenweg wie Bagatellen aussehen: daß der Aufenthaltsraum und Eßraum schon um 7 Uhr abends geschlossen wurde und sich so jede Geselligkeit, auch Fernsehen, verbot; daß den Heimbewohnern 30 Mark von ihrem Taschengeld fürs Wäschewaschen abgenommen wurde; daß es im Erdgeschoß keine Toilette und nirgends einen Kühlschrank gab; daß es nicht die geringste Ablenkung im monotonen Rhythmus der Mahlzeiten gab; daß — und da hatte Erich Gröger auch die rechtlichen Vorschriften auf seiner Seite — es keinen gewählten Heimbeirat gab. Die Summe der Bagatellen läuft auf das hinaus, was Erich Gröger, der die Kindheit in einer Reihe von Heimen verbrachte und später jede erdenkliche Art von kollektiver Einsperrung kennenlernte, am wenigsten erträgt: ein Klima kindergartenähnlicher Bevormundung und herzloser Gleichgültigkeit.
Als das April-Taschengeld nicht am ersten, sondern erst am zweiten des Monats ausgezahlt wurde, wirkte das auf sein altes und sich wiederholendes Trauma wie ein brennendes Streichholz auf einen Benzinkanister. Er geht mit seinem Transparent auf die Straße. Die Heimleitung droht ihm postwendend mit der fristlosen Kündigung.
An Erich Grögers Beispiel kann man sehen, daß der anarchische, marktschreierische Protest nicht unbedingt viele Sympathien, aber immerhin schnell etwas in Bewegung bringt. Es kamen zu Erich Gröger auf die Straße das Fernsehen und die Presse, es kamen Briefe und Passanten, es kam die Sozialbehörde, die beschwichtigend den Finger auf den Mund legte — es kam, mit einschüchternd erhobenem Arm, die Justiz. Denn die Betreiber des Seniorenheims — Privatleute, Rechtsanwälte — waren fest entschlossen, sich von einem hungerstreikenden und ihr — wie sie finden — vorbildliches Haus denunzierenden Renter nichts gefallen zu lassen. Sie gingen dorthin, wo Zwist nicht ausgetragen, aber entscheidend verkürzt wird: vor den Richter.
Beim Amtsgericht Tiergarten kam es am 25. Juni zu einem Gerichtsverfahren gegen Erich Gröger, das mit einem Vergleich endete. Er verpflichtete sich, sein Zimmer am Lerchenweg, »bestehend aus einem Bett, einem Schrank, einem Sessel, einem Tisch, einer Zimmerlampe und Gardinen« bis zum 20. Juli zu räumen und »jedenfalls bis zum Verlassen des Heimes von weiteren Protestaktionen durch Aushang von Plakaten sowie ähnlich gearteten Protestaktionen Abstand zu nehmen«. Die Sozialbehörde suchte in den verbleibenden drei Wochen bis zum gerichtlich festgelegten Auszugstermin mit fliegenden Händen eine neue Unterkunft für Erich Gröger, um zu verhindern, daß er am 20. Juli wieder auf der Straße steht, diesmal protestierend und obdachlos. Leicht war das nicht. In einigen Berliner Bezirken wirkt sein Name wie Reizstoff. Das Seniorenheim am Lerchenweg ist nicht das erste, aus dem er mit großem Krach verabschiedet wurde.
Wo Erich Gröger hinkam, gab es Ärger. Und wenn er Ärger hatte, schoß er mit seinen Reden und Aktionen immer übers Ziel hinaus. Vorher aber traf er genau. In einem Heim wurde auf sein Betreiben der Hund der Köchin vom Gesundheitsamt aus der Küche verjagt, in einem anderen ein öffentliches Telefon eingerichtet, in einem dritten endlich für Hygiene in den Bädern gesorgt. Am Lerchenweg ist der Eßraum inzwischen bis 22 Uhr geöffnet, und die Ankündigung einer Heimbeiratswahl gibt den Bewohnern einen Vorgeschmack auf demokratischere Zeiten.
Wo Erich Gröger wegging, hinterließ seine unliebsame Ära eine Spur dringender Reformen. Seine demagogischen Stichflammen leuchten in die dunklen Ecken des Heimdaseins und auf die Schattenseite der Idee vom ruhigen Lebensabend. Sie enthält auch eine Norm: Der Lebensabend hat ruhig zu sein. Ein Hitzkopf wie Erich Gröger geht nicht nur auf die Nerven, sondern über die Grenze des Tabus. Wer alt ist, führt sich so nicht auf und macht sich nicht zum öffentlichen Ärgernis. Auch die damalige Sozialstadträtin Ingrid Stahmer besaß vor zwei Jahren bei einem Streit, den Erich Gröger mit ihr anzettelte, nicht das Herz und nicht den Humor, seinen aufgeregt hingeworfenen Fehdehandschuh liegenzulassen, sondern verriet der Springer-Presse, daß der schwierige Schützling »psychische Probleme« habe.
»Nun herrscht wieder Ruhe im Heim«, lautet der Schlußsatz von Justiz und Heimleitung zu der jüngsten Affäre mit Erich Gröger. Für seine MitbewohnerInnen verheißt die Ruhe, die nach seinem Auszug am Lerchenweg wieder einkehren soll, Panik vor der ereignislosen Totenstille. Wenn im Leben gar nichts mehr geschieht, ist noch der groteskeste Zwischenfall mit einem wutentbrannten Erich Gröger beim Mittagsmahl bares Entertainment. Die Standpauken, die sie sich stellvertretend für Bonzen und Politiker, Gott und die Welt von Erich Gröger anhören mußten, waren ihnen allemal lieber als das Schweigen, das nun, ohne ihn, wieder kommen wird. An den Abenden vor seinem Auszug sitzen einige um ihn herum, still in Taschentücher schluchzend, ängstlich, 70jährige, 80jährige, wie Kinder, bevor der Vater nach Amerika geht. Sie beschwören Erich Gröger, sie wenigstens ab und zu zu besuchen. Das wird nicht gehen. Die Leitung des Heimes Lerchenweg sandte ihm an sein Domizil einen letzten bösen Gruß nach, ein Hausverbot.
Erich Gröger ist jetzt in einem Seniorenhaus untergebracht, wo er sich selbst versorgt. Beste Bedingungen. Drei Tage ist er munter und zufrieden. Am vierten: wieder so ein Ding. Erich Gröger in heller Aufregung. Da schreibt ihm das Sozialamt, daß er nun die verbilligte Netzkarte für Bus und U-Bahn, die die restlichen zehn Julitage noch gilt, ihm aber nicht mehr zusteht, zurückgeben müsse. Erich Gröger kann, Telefonate lang, von der absurden Paragraphengenauigkeit nicht ablassen. »Ist ja schon gut«, will man ihm, ins Wort fallend, ständig zurufen. Andererseits, wenn man bedenkt, daß eine Sozialarbeiterin sich damit beschäftigt, einen Brief zu schreiben, zu adressieren, zu frankieren, zweimal zu telefonieren, einmal zu konferieren, um einen Rentner daran zu hindern, einmal, zweimal oder dreimal zu Unrecht verbilligt mit dem Bus zu fahren, während sie gleichzeitig ein paar alte Damen, die um die Ecke in einem Heim leben, mit der Organisation einer kleinen Kaffeefahrt mehr beglücken würde als einen Jungunternehmer mit einem Sechser im Lotto, dann ist das schon, um aus der Haut zu fahren. Ursula März
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