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12.12.1980 — die Nacht, in der das Faß überlief

■ Vor zehn Jahren fand die erste große »Straßenschlacht« um besetzte Häuser statt: Die Wut über verfehlte Wohnungspolitik und Spekulantentum entlud sich zehn Stunden lang/ 1981 wurde der marode SPD-Senat von der CDU abgelöst/ 77 von ehemals 281 besetzten Häusern legalisiert, der Rest geräumt

Berlin. Brennende Barrikaden, knüppelnde Polizisten, fliegende Steine, klirrende Scheiben. Bilder aus Berlin, die nicht zum Alltag der Stadt gehören, aber mindestens einmal im Jahr mit zunehmender Brutalität eine Neuauflage erfahren. Zum letzten Mal im November im Ostberliner Bezirk Friedrichshain, davor am 1. Mai im Westberliner Kreuzberg. Daß »Straßenschlachten« in Kreuzberg einmal zu einem entpolitisierten Ritual verkommen, hat sich vor zehn Jahren wohl kaum jemand vorgestellt: Der 12.12.1980 war die Nacht der ersten großen Kreuzberger Straßenschlacht um besetzte Häuser. Damals war es die Wut über die Wohnungsnot, das Spekulantenunwesen und die verfehlte Sanierungspolitik, die sich auf den Straßen rund um das Kottbusser Tor entlud. Nachdem in den Wochen und Monaten zuvor immer mehr leerstehende Häuser besetzt worden waren, brachte die durch die Polizei verhinderte Besetzung des Fränkelufers 48 das Faß zum Überlaufen: Über Telefonketten benachrichtigte Unterstützer eilten aus der ganzen Stadt ans Kottbusser Tor. Der Funke sprang über, als Jugendliche in der Admiralstraße aus Angst vor der Räumung ihres Hauses eine kleine Barrikade errichteten. Die Polizei griff ohne Vorwarnung zu Knüppeln und Tränengas und trieb die Versammelten auseinander. Es entwickelte sich eine Straßenschlacht, die sich über zehn Stunden hinzog und bei der die Polizei nicht Herr der Lage wurde. Schaufensterscheiben gingen zu Bruch, Steinhagel prasselten auf die Mannschaftswagen ein, eben beseitigte Barrikaden wurden sofort an anderer Stelle neu errichtet. Die gespenstische Szene löste sich erst in den frühen Morgenstunden auf — mehr aufgrund beiderseitiger Erschöpfung, als daß es der Polizei gelungen wäre, wieder »Ruhe und Ordnung« herzustellen. Die Hochstimmung der Besetzer und Unterstützer über diese »Polizeischlappe« täuschte jedoch nicht darüber hinweg, daß es in der Nacht über hundert zum Teil schwer Verletzte gegeben hatte. Unter ihnen auch Rüdiger Haese, dem von einer Polizeiwanne die Beine abgequetscht worden waren (siehe Kasten). Gegen 22 von über 60 vorübergehend Festgenommenen wurde Haftbefehl erlassen. Die Folge der Nacht waren nicht abreißende Demonstrationen und Auseinandersetzungen, nun mit der Forderung: »Eins zwei drei, laßt die Leute frei«. Getragen von der Sympathie großer Teile der Bevölkerung, erlebte West-Berlin in den folgenden Monaten einen regelrechten Besetzungsboom. In der Hochzeit der Bewegung wurden 281 besetzte Häuser verzeichnet. Der marode SPD-Senat — nachdem Dietrich Stobbe über den Garski-Skandal gestolpert war, folgte ihm im Amt des Regierenden Bürgermeisters für kurze Zeit Hans- Jochen Vogel — hatte den Besetzungen erst nicht viel entgegenzusetzen. Bald schon erfand man die berühmt- berüchtigte »Berliner Linie«: Neubesetzungen sollten sofort geräumt werden, für die anderen besetzten Häuser sollte die Möglichkeit von Legalisierungsverträgen gegeben sein, sofern für das Haus ein konkretes Sanierungskonzept ausgearbeitet werden konnte.

Gegen die Berliner Linie wurde immer wieder verstoßen, als beispielsweise die Polizei unter dem Vorwand in die Häuser eindrang, diese wegen angeblichen Verdachts von Straftaten durchsuchen zu müssen. Manche Durchsuchung endete mit einer Räumung. Auf dem Besetzerrat war der Hauptstreitpunkt die Legalisierung der Häuser. Über ein halbes Jahr war es jedoch mehr oder weniger Konsens, daß erst verhandelt werde, wenn die Verhafteten freigelassen und keine weiteren Häuser geräumt würden.

Es kam nicht dazu. Am 10. Mai 1981 gewann die CDU die Wahlen, die AL zog erstmals mit neun Abgeordneten ins Rathaus. Der neue Regierende hieß Richard von Weizsäcker. Innensenator wurde ein Mann fürs Grobe: Heinrich Lummer. Die CDU übernahm ein Erbe von 163 besetzten Häusern, traute sich anfangs jedoch noch nicht so recht durchzugreifen. Die Hausbesetzer sahen nun auch bekannte Persönlichkeiten und Institutionen an ihrer Seite: Mitte Mai übernahmen Kirchengemeinden, Stadtteilzentren, Gewerkschaften, Professoren, Literaten und Künstler Patenschaften. Ziel der Patenschaften war mehr Schutz vor Durchsuchungen und Räumungen.

Es folgten nun im Schlagabtausch Räumung — manche Paten ließen sich miträumen — Proteste, Straßenschlachten und trügerische Ruhe bis zur nächsten Räumung. Die Gewaltbereitschaft bei Teilen der Polizei und Besetzer wurde immer größer. Daß es zu Toten kommen würde, schien nur noch eine Frage der Zeit. Am 22. September 1981 ließ Heinrich Lummer acht besetzte Häuser räumen. Bei dem Einsatz in Schöneberg wurde der junge Besetzer Klaus-Jürgen Rattay von der anrückenden Polizei in den fließenden Verkehr getrieben und von einem BVG-Bus zermalmt.

In den kommenden Monaten wurde weiter geräumt, etliche davon unter dem bewährten Vorwand einer Durchsuchung. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft unter Wolfgang Müllenbrock, der später zum Staatssekretär avancierte, hatten völlig freie Hand und nutzten dies aus, indem sie mit ihren Vorgehen so manche friedliche Lösung torpedierten. Der zentrale Besetzerrat hatte sich längst in Bezirksbesetzerräte aufgelöst, auf denen endlos über das Für und Wider von Verhandlungen diskutiert wurde. In langwierigen, zähen Verhandlungen, die immer wieder durch die bis 1984 andauernden Räumungen von einzelnen Häusern unterbrochen wurden, gelang es 77 Häusern schließlich, teils allein, teils gemeinsam mit anderen Häusern, langfristige Nutzungsverträge zu erkämpfen: die Mehrzahl in Form von Pachtverträgen, einige wurden als Mieter legalisiert, und einige wenige kauften ihr Haus. Plutonia Plarre

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