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»Unpolitische« Räumung

■ Vollstreckungshilfe für eine kalte Metropole KOMMENTAR

Häuserräumungen haben in (West-)Berlin immer mehr die Merkmale von kleinerern Naturkatastrophen: Sie kommen überraschend, über Nacht und scheinbar automatisch. Die Räumung der Lübbener Straße 29, hieß es gestern von verschiedener Seite, sei eine unpolitische Räumung gewesen. Die Polizei wollte — wie schon häufiger zuvor — das Wort »Räumung« gar nicht gelten lassen und sprach von einer »Vollstreckungshilfe für den Gerichtsvollzieher«. In der Tat ist all dies formal korrekt: Alle haben nur vollzogen, was zu vollziehen war. Selbst die Wohnungsbaugesellschaft BeWoGe kann sich auf eine gewisse Moral berufen. Schließlich gibt es ein Sozialplanverfahren für Mieter, die irgendwann zurückwollten — und schließlich wissen die BesetzerInnen seit Monaten, daß sie das Haus zu verlassen haben. Mehr gibt es nicht zu sagen, man kann zur Tagesordnung übergehen.

Alles paletti? Erstens: Es bleiben der Schnee, die Minusgrade, der Blitzangriff. Bei so einem Wetter schickt man keinen Hund vor die Türe — ist dieser Tage wieder eine häufige Redewendung. Aber auch solche Einwände wollen die realpolitischen Verteidiger der unpolitischen Maßnahme nicht gelten lassen. Ein merkwürdiges Bild vom modernen Rechtsstaat. Zweitens: Es bleibt die Frage, wie diese Stadt künftig mit all jenen »Unbequemen« umgehen will, die in den Warteschlangen keine Chance haben — oder anders als die Norm leben wollen. Wenn Wohnungsnot, Mangelverwaltung und Ordnungspolitiker jeglicher Couleur — moralisch motiviert — nun auch noch die letzten Winkel beanspruchen, geht ein Stück Metropole verloren: Berlin wird mehr und mehr ein Stück kalte Weltstadt, in der es nichts mehr zu entdecken gibt. Ein Ort für Retortenmenschen? Thomas Kuppinger

Siehe auch Seite 22

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