: Das Waldsein könnte stattfinden
■ Reiner Kunzes Dokumentation über seine Stasi-Bespitzelung: „Deckname Lyrik“
Seit gestern ist ein Buch im Handel, das Folgen haben wird: „Deckname „Lyrik“, eine Dokumentation von Rainer Kunze (s.a. taz vom 10. und 12.12. sowie den ‘Spiegel‘ dieser Woche). 1990 hatte der Staatssicherheitsdienst der DDR auf dem Buchenberg bei Pößneck in Thüringen Aktenmaterial über den Schriftsteller („Tatbestand: Staatsgefährdende Hetze § 106 StGB, Staatsverleumdung § 220 StGB“) verbrannt. Im Archiv des ordentlichen Amtes allerdings gab es noch die Originalakte: zwölf versiegelte Bände mit insgesamt 3491 Blatt, Aufzeichnungen über die Tätigkeit der Stasi, die bis zur Übersiedlung Reiner Kunzes in BRD 1977 reichen. Reiner Kunze hat seine Akte gelesen und, aus einem Bruchteil des Materials, diese Dokumentation erstellt. Wir drucken hier Auszüge und empfehlen die Lektüre. (Fischer Taschenbuch Verlag, 125 S., DM 9,80)
Einfügungen und Erläuterungen in eckigen Klammern sind von Reiner Kunze; Großbuchstaben in Anführungszeichen („A.“) sind Anfangsbuchstaben von IM-Decknamen (IM = inoffizieller Mitarbeiter; registrierter, konspirativ arbeitender Informant). Auslassungen in runden Klammern (...) sind unsere. d.Red.
Gera, den 30.08.67
...Der freischaffende Schriftsteller Kunze, Reiner, erhielt vom westdeutschen Merlin- Verlag eine Einladung. Begründet wurde die Einladung damit, daß Kunze der Übersetzer einer tschechischen literarischen Arbeit ist, die erstmalig in Westdeutschland herausgekommen sei [Jan Skácel, „Fährgeld für Charon“, Gedichte]. Aus diesem Anlaß habe der Merlin-Verlag den tschechischen Autor und Kunze eingeladen. Nach Rücksprache mit Minister Gysi und der Kulturabteilung des ZK der SED wurde die Reise abgelehnt.
Quelle: Gen. Dr. Sch..., Deutscher Schriftstellerverband.
Gera, den 27.08.68
(...) Ziel der Bearbeitung:
— Erarbeitung von Materialien, inwieweit die politisch-ideologische Einstellung und die Arbeiten Kunzes konterrevolutionäre Zielstellungen zum Inhalt haben.
— Kompromittierung des Kunze in Schriftstellerkreisen der DDR und der ČSSR.
— Einschränkung seiner Resonanz...
Maßnahmen:
— Erarbeitung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes, um geeignete Kombinationen und Legenden für die Bearbeitung mit IM erarbeiten zu können...
— Ermittlung der Frau des Kunze und ihrer Verbindungen zu intellektuellen Kreisen in Greiz...
Magdeburg, den 19. Mai 1970
Literarische Veranstaltung am 12.05.1970...auf der Podiumsbühne des Großen Hauses der Bühnen der Stadt Magdeburg...Da bekannt ist, daß der K. eine sehr seichte Einstellung zu den Problemen der Kunst hat und diese sich auch in seinen Werken ausdrückt, war vonseiten der Bezirksleitung der SED...erst vorgesehen, diese Veranstaltung zu sperren. Von dieser Absicht wurde aber Abstand genommen. Die Karten [wurden] aufgekauft und nach einem bestimmten Schlüssel...verteilt. Der Personenkreis setzte sich zusammen aus Genossen
der Bezirksleitung der SED,
des Rates des Bezirkes,
der Bezirksleitung der FDJ...
Anwesend waren ca. 40 Personen. Nach der Vorstellung [des Autors] war anhand der einleitenden Worte des K. zu vermuten, daß ihm bewußt war, aus welchen Personenkreisen sich die Gäste...zusammensetzten...Eine eindeutige Stellungnahme zur realistischen Kunst...in unserem sozialistischen Gesellschaftssystem fehlt[e] gänzlich...Um das Neue und Moderne der Musik zu begreifen, hat er extra mit einem Leipziger Musiker Bekanntschaft geschlossen. [Letzter Satz ist von Hand unterstrichen. Daneben handschriftlich:] Wer ist das?
Bemerkungen zu dem Gedichtband „Sensible Wege“ von Reiner Kunze [Gutachten eines Germanisten der Friedrich-Schiller-Universität Jena]
Schon der Klappentext offenbart, daß es sich um Gedichte handelt, die in der BRD (in bestimmten Kreisen) auf ein großes Interesse stoßen, weil sie aus der sozialistischen Literatur der DDR herausfallen und nach neuen Außenwelt-Erfahrungen suchen...R. Kunze verzichtet in vielen seiner Gedichte auf einen historisch konkreten Bezug, so daß sich der Leser aussuchen kann, was gemeint ist, worauf angespielt wird und für welche Zeit es zutreffen soll, beispielsweise in...„Hymnus auf eine Frau bei Verhör“. Letzteres kann auf jede beliebige Zeit angewendet werden, auch und eben auf ein Verhör in der DDR. In dem Gedicht „Kurzer Lehrgang“ ist unter dem Zwischentitel „Ethik“ das persönliche Dilemma des Autors...ausgesprochen. Der Mensch stehe zwar im Mittelpunkt, aber nicht der einzelne...Welch ein Unsinn!...„Das Negativ...in uns“ sei nicht retuschierbar..., meint R.K. und will damit sagen, daß viele DDR- Bürger im Innern ihres Herzens, ihrer Gefühle und Gedanken Vorbehalte, Zweifel und Antipathie gegen die sozialistische Entwicklung der DDR hegen...Untermauert wird diese meine Interpretation durch das Gedicht „Die Antenne“..., wo beschrieben wird, wie die Westantenne in den Kopf flüchtet, weil sie dort vorerst in Sicherheit ist. In den Gedichten zeigt sich insgesamt eine Lebensfremdheit, das Nichtbegreifen oder Nichtbegreifenwollen unserer gesellschaftlichen Entwicklung,...der ČSSR-Ereignisse und der internationalen Hilfe der verbündeten sozialistischen Länder, zeigt sich die Vereinzelung und das Abgeschiedensein des Autors von der Arbeit und dem Kampf um Frieden und Glück.
Jena, den 25.5.1971
(Unterschrift)
[Handschriftlich]
Für die Anfertigung eines Gutachtens über den Gedichtband „Sensible Wege“..., Operativ-Vorgang „Lyrik“, Reg.Nr. X/514/68, wurden 50.— M. verausgabt.
Quittung
MDN 50.—
Karl-Marx-Stadt, 7.2.1973
Inoffiziell wurde bekannt, daß die Studentin Rita P..., TH Karl-Marx-Stadt, im Besitz von Gedichten des Schriftstellers Reiner Kunze ist und diese an Interessenten weitergibt.
Leipzig, den 10.6.1975
Bei meinem Besuch...in Greiz teilte mir Reiner Kunze folgendes mit: Nachdem ihm von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste die ordentliche Mitgliedschaft angetragen worden war,...habe man ihn nach Berlin ins Kulturministerium gebeten. Dort sei es...darum gegangen, daß er auf die Mitgliedschaft bei der Akademie verzichte. In dem Gespräch habe man zuerst...große Achtung vor seinen bisherigen Leistungen bekundet, und dann habe man versucht, mit ihm zu verhandeln. Er meinte, daß ihm ...Versprechungen und Angebote gemacht worden seien...Auf materiellem Gebiet habe man ihm u.a. eine Komfortwohnung in Berlin, ein Wochenendgrundstück in der Nähe von Berlin [und] einen Pkw westlicher Fabrikation [an]geboten. Man habe ihm gesagt,...es sei alles einzurichten...Kunze meinte mir gegenüber, nur gut, daß [er]...in solchen Situationen...ruhig bleibe. Als er...abgelehnt...und auf einer Annahme der Mitgliedschaft bei der Akademie beharrt habe, hätte man ihm für seinen Besuch gedankt und — sinngemäß — gesagt: Dann können wir auch für eine unfallfreie Rückfahrt nach Greiz nicht garantieren — was er als Morddrohung verstanden hat...Ich hatte den Eindruck, daß sich R. Kunze in Folge dieses Erlebnisses nicht nur in seiner künstlerischen Arbeit bedroht fühlt, sondern auch in seiner physischen Existenz. (»H.«)
Berlin, 13.10.1976
Der Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR informiert...: Es ist beabsichtigt, daß der Schriftsteller Hermann Kant einen Artikel für das „Neue Deutschland“ schreibt, in dem er sich gegen die...Praktiken des BRD- Schriftstellers Heinrich Böll ausspricht. In diesem Artikel soll Hermann Kant auch die feindlichen Aktivitäten von Kunze...behandeln...Am 3.11.1976 wird das Präsidium des Schriftstellerverbandes zu einer Sondersitzung zusammengerufen, um den Ausschluß Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR zu bestätigen. Genosse Henniger erklärte dazu, daß er bei der Bestätigung...mit keinerlei Schwierigkeiten rechnet, da Hermann Kant und auch Erwin Strittmatter der Ansicht sind, daß...es Zeit wäre, Kunze aus der DDR auszuweisen.
Gera, den 21.12.1976
Abschrift eines Briefes aus Kirchenkreisen an den Bischof
Am 19. November fand...eine Dichterlesung mit dem Schriftsteller Reiner Kunze statt. Die Veranstaltung verlief völlig diszipliniert, ohne irgendwelche Zwischenfälle. Ein gemeinsam gesprochenes Vaterunser wurde am Schluß gebetet. Bald danach setzten Vorladungen durch verschiedene staatliche Organe ein...Dauer der Befragung[en] ca. 3—19 Stunden in zum Teil harter Weise. Ein[er]...wurde gegen 24.00 Uhr, ein anderer nachmittags von seiner Arbeitsstelle abgeholt...Es wurde aufgefordert, dem Staatssicherheitsdienst Informationen zu geben...
Gera, den 17.2.1977
K. will (nach Camus) Auge in Auge mit dem Nichts leben und im Bewußtsein der Absurdität dieses Daseins Mensch sein wollen; er will dem Einzelnen helfen — Solidarität üben; will kein Unrecht im Großen wie im Kleinen unwidersprochen hinnehmen...
Für R. existiert das Absurde auch in der DDR.
Gera, den 18.2.1977
Dr. Karl Corino...sandte einen Brief an K., in dem lediglich ein Gedicht von K. und eine Waldlandschaft enthalten waren. In dem Gedicht heißt es im ersten Vers: „Das waldsein könnte stattfinden mit mir...“ Möglicherweise könnte Corino damit mitgeteilt haben, daß das Zusammentreffen zur Leipziger Frühjahrsmesse nun doch stattfinden könnte. Entsprechende pol.-operative Maßnahmen dazu werden im Zusammenwirken mit der Bezirksverwaltung Leipzig eingeleitet.
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