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„Es is geine Rassen-, sondern eine Glassenfrage“

Fünfzehn Erfurter jüdischer Herkunft kehrten nach 1945 in ihre Heimatstadt zurück, gefolgt von wenigen Überlebenden der umliegenden Lager Jüdisches Leben wäre wieder möglich gewesen, hätte es in der DDR nicht einen neuen, als Antizionismus verbrämten Antisemitismus gegeben  ■ Von Henning Pawel

Ein paar alte Jüdinnen und Juden, unter ihnen Heinrich Roth (96), sitzen und singen. Traurig ist es, ergreifend auch. Gottesdienst in der letzten, noch amtierenden Thüringer Synagoge in Erfurt. Fast nur noch zu den hohen Festen und den Gedenktagen, wie Kristallnacht, Beginn des Krieges, Aufstand und Ende des Warschauer Gettos, wird hier gebetet und gesungen. Für mehr reicht die Kraft der Gemeinde nicht aus.

Das grüne Herz Deutschlands, Thüringen, ist nach 45 Jahren noch immer so gut wie „judenfrei“. 28 registrierte Seelen zählt die Landesgemeinde in ganz Thüringen heute. Noch einmal so viele werden es sein, die aus mancherlei Gründen, oft aus guten, ihr Judentum verschweigen.

Von 1.100 Erfurtern jüdischer Herkunft kehrten 1945 fünfzehn in ihre Heimatstadt zurück. Ein paar Dutzend Überlebende der umliegenden Lager, Buchenwald, Dora, Römhild, meist aus dem Osten deportiert, stießen hinzu. Es hätte ein neuer, wenn auch bescheidener Anfang werden können.

Väterchen Stalin aber begann um 1951, sich der davongekommenen Israeliten seines Imperiums zu erinnern. Prozesse gegen Slansky und angebliche Zionisten in der Tschechoslowakei, ihre Hinrichtung, das Tribunal gegen jüdische Ärzte in der Sowjetunion, die man der Verschwörung gegen das Leben des Lenkers der Völker angeklagt hatte, wurden besonders für junge Juden in den DDR-Gemeinden das Signal zum unverzüglichen Aufbruch nach Westen.

Auch Walter Ulbricht rüstete zur Hatz. Maßregelungen jüdischer Funktionäre, Prozesse gegen „jüdische Wirtschaftsverbrechen“, unglaubliche Strafmaße, die sämtlich vollstreckt wurden. Juden verloren ihre Ämter, wurden aufgefordert, ihr Bekenntnis aufzugeben, erlitten Repressalien mannigfachster Art. Besonders bemerkenswert ist die von Ulbricht im besten Sächsisch abgegebene marxistisch-leninistische Orientierung: „Es is geine Rassen-, sondern eine Glassenfrage.“ Allein Stalins Tod, nicht der eilig erfundene und verkündete Ulbrichtsche Widerstand gegen die Leute Berijas, verhinderte das Schlimmste.

Karikaturen in Stürmermanier

Den Exodus dieser Jahre hat die Thüringer Gemeinde nie überwunden. Jeder Zuwachs blieb aus. Keine jungen Juden mehr zur Liebe in Ostdeutschland bereit und zum Kinderkriegen. Überalterung und bis 1961 immer wieder Emigration. Nächste Zäsur — der Nahostkrieg 1967.

Die Haltung der DDR-Führung und der Medien übertraf alles bisher Dagewesene. Schäumende Verurteilung des „Aggressors Israel“. Lautstarke, schamlose Anbiederung auf Kosten der eigenen jüdischen Staatsbürger bei den Palästinensern, Syrern und Ägyptern. Verlogene Berichterstattung über arabisches Heldentum und israelische Greueltaten. Das jüdische Gemeinwesen in Palästina wird offiziell und unwidersprochen mit dem Staat Hitlers identifiziert.

Die Karikaturen zahlreicher Zeitungen, besonders die eines Erfurter Grafikers in Stürmermanier, machen Furore. Mosche Dajan und Hitler, Arm in Arm. Israelische Panzer mit modifiziertem Hoheitszeichen, dem Davidstern und SS-Runen, in kunstvoller Verquickung. Männer im Panzerturm, den bewußten Ausdruck um die Augen und langen dicken Nasen, zermalen satanisch ums Leben flehende, arabische Greise, Frauen und Kinder unter Panzerketten. Die Bitterkeit und Hilflosigkeit jener Jahre begleiten auch die Thüringer Juden bis heute.

Fragen nach Protesten und Widerstand? Oft genug sind sie vorstellig geworden: der tapfere, fünfundsiebzigjährige Gemeindevorsteher Raffael Scharf-Katz, selbst Insasse vieler Lager, die unermüdliche Seele der Gemeinde, Ruth Cars, und andere. Sie haben um Mäßigung in der Berichterstattung nachgesucht und auf den neuen, schlimmen Antisemitismus, der mit Antizionismus einherging, hingewiesen. Vergeblich natürlich. Ins Gesicht bestritten wurden ihnen Feststellungen solcher Art.

Immer war da auch die Sorge um das bißchen Geld. Erbärmlich genug der Betrag, den der Staat, nicht ohne sich dieser Almosen ständig zu rühmen, den Gemeinden zukommen ließ. Um die zahlreichen, jüdischen Friedhöfe in Thüringen nicht ganz verkommen zu lassen, damit wenigstens noch ein Hauch, eine Ahnung von jüdischer Kultur im einst so traditionsreichen Land übrigbleibt, war die Gemeinde darauf angewiesen und hatte sich zu verhalten.

Ein weiteres, schlimmes Kapitel: Entschädigungen, die niemals stattfanden. Weder für gemordete Familien, noch für geraubtes Vermögen. Eine Rente gab es. Für einstige DDR-Verhältnisse nicht schlecht, zuletzt rund 1.500 D-Mark. Doch auch hier blieb sich der „Staat der Antifaschisten“ treu. Es wurde unterschieden zwischen „Opfern des Faschismus“, Juden, „Zigeunern“, und „Kämpfern gegen den Faschismus“, hauptsächlich Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie erhielten 200 D-Mark mehr.

Halbjuden galten schon gar nicht als Opfer

Viele, besonders sogenannte Halbjuden, erhalten gar nichts. Sie hatten die gleichen Benachteiligungen und Ängste durchlitten, ihren jüdischen Eltern die Treue gehalten, waren häufig, da sie sich nicht trennen ließen, mit ihnen verhaftet, schwer mißhandelt und deportiert worden. Sofern sie ums Lager herumgekommen waren und den Stern nicht getragen hatten, aus welchen Gründen auch immer, galten sie nicht als „Kämpfer“, noch nicht einmal als „Opfer“ und hatten demzufolge auch nicht den geringsten Anspruch. Groteske, widerliche Begebenheiten.

Anträge auf Erteilung des von den Nazis liquidierten Gewerbes wurden in bekannter, antikapitalistischer Phraseologie abgelehnt. In den Gewerbekommissionen saßen, nun mit neuem Parteibuch der LDPD, der NDPD, natürlich auch der CDU, just jene Geschäftsleute, die sieben Jahre zuvor dasselbe Gewerbe arisiert hatten.

So geschehen der Hanna P. in Meiningen, Tochter eines gemordeten jüdischen Vaters, Hinterbliebene von zwölf weiteren umgebrachten Angehörigen. Diesselbe Frau hatte ein zusätzliches Trauma im Arbeiter- und Bauernstaat zu absolvieren: die Zahlung der Reichsjudenabgabe, bis weit in die sechziger Jahre hinein. Um die Unkosten der Kristallnacht einzutreiben und die Juden um das letzte, was sie noch besaßen, zu bringen, hatte Göring 1938 die perverse Steuer erfunden. Fremde hatten damals dem Kaufmann Hugo P. geholfen. Sie streckten das Geld vor und erhielten es nach dem Krieg Pfennig für Pfennig von der Tochter zurück.

Der Staat, von der schwachen Frau schließlich um Hilfe bei der Begleichung der Ehrenschuld gebeten, reagierte auf unvergleichliche Weise: Die Kreditgeber hätten keinen Anspruch mehr auf das Schandgeld, wurde Hanna P. mitgeteilt. Sie solle einfach nicht weiterbezahlen. Erst als sich die Angelegenheit zum Skandal auswuchs, wurde die Restsumme übernommen. Die aus einer Rente von 156 D-Mark bereits beglichenen 34.000 D-Mark wurden natürlich nie zurückerstattet. Ebensowenig erhält die bald achtzigjährige Frau, der man die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ verweigert hat, auch nur einen Pfennig Verfolgtenrente oder gar Entschädigung.

Dennoch, trotz des langen und schweren Lebens und all der Schändlichkeiten, singt der Thüringer Jude Heinrich Roth beim Kiddusch, dem Segen, in der Erfurter Synagoge wacker mit. Singt auch weiter, als die anderen schon lange verstummt sind. Bei Stimme ist er noch, der 96jährige, aber halt die Ohren. Ich stubs' ihm sacht den Ellenbogen in die Rippen. Da hört er auf. Zwinkert mir freundlich zu und rüstet zum Aufbruch, der Uralte und dennoch ewig Jüngste von 18 ermordeten Geschwistern. Kinder nur einer Mutter, die, erzählt er mir mitunter weinend, auch sehr alt geworden wäre, wenn man sie gelassen hätte.

„Noch ein paar schöne Jahre“, wünscht er sich und mir, dem Mittvierziger, beim Abschied, „und“, leiser Blick in die riesige, fast leere Synagoge, „daß es hier einmal wieder so voll wird wie in den alten Tagen. Wenigstens ein Minjan am Shabbes müßte doch sein. Daß man beten und singen kann, wie es sich gehört.“

Ein Minjan, die Anwesenheit von mindestens zehn jüdischen Männern, ist notwendig für die Durchführung eines den Vorschriften entsprechenden Gottesdienstes. Der Wunsch von Heinrich Roth trifft auf offene Ohren. Jedenfalls auf jüdische. Vor Thüringer und anderen deutschen Toren stehen Juden aus dem Osten und bitten um Einlaß.

Juden in der UdSSR: „Unser Unglück“

Ihre Lebensverhältnisse in der Sowjetunion werden immer unerträglicher. Zur materiellen Not, die sie mit den nichtjüdischen Landsleuten teilen, kommt die schreckliche und berechtigte Furcht vor dem immer stärker werdenden Antisemitismus in der UdSSR. Die nationalistische Sammlungsbewegung Pamjat, mit riesiger Massenbasis, hat schon die Schuldigen für das Elend im Lande gefunden: „Die Juden sind unser Unglück.“ Noch werden sie „maßvoll“ nur aufgefordert, das Land zu verlassen.

Nebulös die Haltung der russischen Kirche dazu. Auch die kommunistische Partei hat besseres zu tun, als sich nun auch noch wegen der Juden mit dem Volk anzulegen. In Kiew, einer Stadt mit langer antisemitischer Tradition, leben sie schon in Erwartung des Pogroms.

Jüdische Schüler werden gehetzt. Häufig verweigert man, nach stundenlangem Schlangestehen, den Verkauf der Lebensmittelration — „Nur für Ukrainer“.

Andere Boykotts werden bekannt, schauerliche Gerüchte über die Plünderung jüdischer Massengräber, durch die Zeitung schließlich bestätigt. Immer mehr Kindesentführungen in Rostow am Don. Kleine Juden sind begehrt. Die Jewrais, Hebräer, müssen bluten. Vorerst noch nur materiell. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als wieder einmal aufzubrechen. Das Schicksal jener, die damals abwiegelten, die das Schreckliche nicht glauben wollten, ist allgegenwärtig.

Nun sind die ersten da und werden, jedenfalls in Thüringen, nicht unfreundlich empfangen. Von der jüdischen Gemeinde brüderlich, von den Kommunen und vom Land sachlich. Mitunter gar verständnisvoll. Sie sitzen in Lagern, bei Eisenberg und Ilmenau. In Apolda hat man einige Familien sogar in eine Stasivilla eingewiesen. Nun warten die Juden. Ob sie bleiben und arbeiten dürfen, im neuen Deutschland?

Sie würden sie schon gerne wieder füllen, die leeren Thüringer und anderen deutschen Synagogen, die Kihillos, die Gemeinden, neu beleben. Wenn man sie nur hereinläßt und heraus aus den Lagern.

Alle aus dem uralten Volk des Erlösers, die erlöst werden wollen durch Einlaß ins deutsche Land, sollen auch eingelassen werden. Nicht einer muß draußen bleiben. Dem machtvollen großdeutschem Ruf „Juden raus“ wird nun das entschlossene neudeutsche „Juden rein“ folgen. Sollte die Regierung doch noch Schwierigkeiten haben mit der Formulierung eines entsprechenden Kabinettsbeschlusses und eines Sachverständigen in Sachen Juden bedürfen, so empfehle ich als Berater Heinrich Roth aus Thüringen. Zuzüglich jener Autorität, deren Botschaft am 24. und 25.Dezember wieder einmal von allen Kanzeln verkündet werden wird.

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