: Sowjetunionhilfe — Bumerang für die Dritte Welt
Die Spendenkampagne für die Sowjetunion bringt Hilfswerke für die Dritte Welt in Schwierigkeiten/ Schon jetzt alarmierende Finanzeinbrüche/ Der Spendenkuchen wird nicht vergrößert, sondern — in diesem Fall — nach Osteuropa umverteilt ■ Von Vera Gaserow
Berlin (taz) — Jeglichen Anflug von Neid oder Miesmacherei möchte man vermeiden, aber an der Misere läßt sich nichts rütteln: Die bisher wohl größte und vielleicht auch bemerkenswerteste Hilfsaktion in Deutschland, die Spendenkampagne für die Sowjetunion, bringt die Hilfsorganisationen für die Dritte Welt in eine finanzielle Krise. Schon jetzt verzeichnen beinahe alle Organisationen deutliche Einbrüche im Spendenaufkommen. Denn die Kampagne für die Sowjetunion droht ausgerechnet den wichtigsten Finanzfluß vieler Hilfsorganisationen umzuleiten: die Spenden zur Weihnachtszeit und zum Jahresende, „Hochzeit“ für Mildtätigkeit und letzte Möglichkeit für Steuerabschreibungen von Großspendern.
Das katholische Hilfswerk „Misereor“, einer der Multis unter den Hilfswerken für die Dritte Welt, verzeichnet trotz boomender Wirtschaft in der alten Bundesrepublik schon jetzt ein Defizit von vier Millionen Mark auf dem Spendenkonto, und das, so Misereor-Sprecher Johannes Hermanns, „hat ganz massiv mit der Entwicklung in Osteuropa zu tun“. Bedenkliche Gesichter auch bei der evangelischen „Konkurrenz“, dem Hilfswerk „Brot für die Welt“. Dort will man zwar von negativen Auswirkungen der Sowjetunionhilfe „noch nicht sprechen“, aber die Sorge, daß Ende des Jahres die Finanzmittel magerer sein werden als zuvor, teilt man auch hier. Deutlich beziffern kann man dagegen bei der „Deutschen Welthungerhilfe“ den Spendenrückgang. Während das Spendenaufkommen im 1.Halbjahr 1990 relativ hoch war, ist jetzt ein Defizit zwischen fünf und sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen.
Experten haben das längst vorausgesehen
Andere Hilfswerke prognostizieren einen Rückgang von rund acht Prozent. Bei „terre des hommes“, einem der kleineren Hilfswerke für die Dritte Welt, ließ sich der drastische Finanzeinbruch mit Beginn der Hilfskampagne für die Sowjetunion deutlich ablesen. Dank einer regen Öffentlichkeitsarbeit verzeichnete die Organisation den ganzen Sommer über ein Spendenplus von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im November, einem der sonst „fettesten“ Spendenmonate, betrug die Steigerungsrate — trotz erneuter Werbekampagne — nur noch 1,4 Prozent, eine Summe, die effektiv niedriger ist als im Vorjahr, da sie nicht einmal die Inflationsrate und Preissteigerungen ausgleicht.
Was die Hilfswerke für die Dritte Welt jetzt zu spüren bekommen, haben Experten längst vorausgesehen. Das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin beobachtet seit Jahren den bundesdeutschen „Spendenmarkt“. Hier weiß man aus Erfahrung: Nach solch besonders emotional geführten Spendenaktionen wie der Sowjetunionhilfe „kommt hinterher immer ein Durchhänger“. 1985 zum Beispiel errangen die Dritte-Welt-Hilfswerke mit einem bis dahin nicht gekannten Medienspektakel, dem „Tag für Afrika“, einen Spendenrekord. Die „Quittung“ kam im nächsten Jahr. Das Spendenaufkommen rutschte bei vielen Organisationen in den Keller. Der Geschäftsführer des Berliner Instituts, Lutz Worch, hat dafür eine banale, aber wohl wahre Erklärung: „Der Spendenkuchen in der Bundesrepublik ist eine relativ unflexible Größe.“
Rund 60 bis 65 Mark pro Jahr und Kopf der Bevölkerung sind in den vergangenen Jahren für gemeinnützige Zwecke gespendet worden, und „diesen privaten Anteil“, so Spendenexperte Worch, „kann man nicht ad infinitum ausdehnen“. Im Klartext: Der Spendenkuchen wird trotz medienwirksamer Kampagnen nicht viel größer, sondern nur neu aufgeteilt — diesmal zu Lasten der Dritten Welt. Wenn sich in den nächsten Wochen nicht noch Entscheidendes tut, wird der finanzielle Aderlaß bei den Hilfswerken konkrete Auswirkungen haben. „Bereits bewilligte Projekte sind zwar nicht gefährdet“, heißt es bei der Welthungerhilfe, „aber wenn die Entwicklung so weitergeht, werden neue Projekte kaum Chancen haben.“
Existentiell bedrohlich wird der Abwärtstrend vor allem für die kleineren Organisationen, die nicht das Finanzpolster haben, um konjunkturelle Schwankungen zu überstehen. Bei terre des hommes spricht man von einer „katastrophalen Situation“ und „internen Krisensitzungen“.
„Kontraproduktive“ Hilfe für die UdSSR
Sorgen bereitet den Hilfswerken vor allem, daß das öffentliche Interesse noch für längere Zeit auf Osteuropa gerichtet sein wird, während sich im Sudan, in der Sahelzone, in Mosambik und auch in Peru neue Hungerkatastrophen abzeichnen. An der Sowjetunionhilfe wollen die Hilfswerke für die Dritte Welt zwar nicht rütteln. Denn, so Brot-für-die-Welt- Sprecher Herbert Hassold, „es hat schon etwas Gutes, daß das jahrzehntelang gepflegte Feindbild auf diese Weise humanitär unterlaufen“ werde. „Aber“, so fügt er einschränkend hinzu, „es ist viel Vordergründiges im Spiel, was mit dem Bestreben, Hunger abzuschaffen, nur bedingt zu tun hat.“ Auch wenn man die Armut in der Sowjetunion nicht leugnen wolle, gehe es bei der derzeit laufenden Kampagne „nicht um das fürs Überleben Notwendige, sondern um Dinge, die das Leben etwas erträglicher machen“.
„Medico international“ drückt es noch drastischer aus: Diese Art der Hilfe, wie man sie schon anläßlich des Tages für Afrika erlebt habe, sei „kontraproduktiv“. Bei einem wahrscheinlichen Spendenaufkommen zwischen 30 und 100 Millionen Mark sei die Nahrungsmittelhilfe für die rund 300 Millionen Einwohner der UdSSR „objektiv bedeutungslos“. Sie könnte nicht einmal eine Notversorgung gewährleisten.
Verhaltene Zweifel an Art und Weise der Sowjetunionhilfe äußern auch andere Hilfswerke, die aus gutem Grund seit Jahren eher auf langfristige und strukturelle Unterstützung als auf Nahrungsmittelhilfe setzen. „In der Sowjetunion, wie an vielen anderen Orten in der Welt, liegt die Lösung der Probleme nicht in Mildtätigkeit“, urteilt Herbert Hassold von Brot für die Welt. Und bei terre des hommes heißt es beinahe resigniert: „Erkenntnisse, die man in jahrelanger Arbeit gewonnen und auch an die Medien vermittelt hat, erscheinen jetzt für die Katz.“
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