piwik no script img

UNTERM STRICH

Der estnische Schriftsteller Jaan Kross hat für seinen Roman Der Verrückte des Zaren (dessen Lektüre wir, nachdem die unsere abgeschlossen ist, gern empfehlen, da wir eine Besprechung bisher verabsäumt haben) den Literaturpreis 1990 von amnesty international erhalten. Der Verrückte des Zaren beschreibt am Beispiel des Verhältnisses eines baltischen Adeligen zu Zar Alexander I. die politischen Auseinandersetzungen mit Rußland. Der seit 87 zum zweiten Mal verliehene Literaturpreis ist undotiert, jedoch mit einer Skulptur ,La flamme d'or‘ (die goldene Flamme) des belgischen Künstlers Vincent Sprebell verbunden. (Dieser letzte Satz ist unverändert von dpa übernommen, der wir für die regelmäßige und im Regelfall zuverlässige Lieferung von Nachrichten zutiefst verpflichtet sind. Nur sind wir nicht immer — zum Beispiel heute — in der Lage, gewisse semantische Unklarheiten durch Hinzutun eigenen Wissens aufzuheben. Niemand in dieser Redaktion weiß, ob die Flamme wandert wie das olympische Feuer — oder von Mal zu Mal neu entfacht wird.)

Aus Anlaß des 30. Jahrestages der Immigration türkischer Gastarbeiter in die Bundesrepublik (? — s.o.) ist in Gelsenkirchen für 1991 ein deutsch- türkisches Theaterprojekt geplant. Der Regisseur Tuncel Kurtiz will mit drei Profi- und rund 100 Laiendarstellern das Epos von Scheich Bedreddin von Nazim Hikmet einstudieren. Der türkische Lyriker und Dramatiker starb 1963 im Moskauer (sic) Exil. Durch Vorsänger, die das Epos in türkischer und deutscher Sprache vortragen, sollen Zuschauer beider Nationen angesprochen werden. Nach der Premiere im Herbst, soll das Stück auf Tournee durch die BRD gehen.

Köln traut sich: Ein in Deutschland erster Lehrstuhl für Musik im 20. Jahrhundert wird im Januar an der dortigen Universität errichtet. Hiermit sei die Voraussetzung geschaffen, die Wechselbeziehung zwischen der jeweils neuen Musikentwicklung und den Technologien wie elektronische Musik und musikalische Information zu untersuchen. Der Lehrstuhl wird von der Stiftung Volkswagenwerk übrigens gefördert. — Wir wissen nicht, wen dpa für diesen Lehrstuhl empfiehlt, wir sind auch in Unkenntnis darüber, wen die Universität im offenen Auge hat. Wir empfehlen: Pierre Boulez, derzeit in Paris am IRCAM tätig. Tauschen Everding gegen Boulez.

Eine umfassende Heinrich Mann-Ausstellung mit 250 Original-Dokumenten präsentiert der Hessische Rundfunk seit Mittwoch in Frankfurt. Die Ausstellungsstücke wurden hauptsächlich von der Akademie der Künste Ost-Berlins zur Verfügung gestellt und sind zum ersten Mal in Westdeutschland zu sehen. Andere Leihgaben kommen aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach und dem Exilarchiv in Frankfurt. Die Ausstellung mit Dokumenten, Handschriften und Fotos ist bis zum 23.1. im Funkhaus für solche zu sehen, denen Marcel Reich-Ranicki die Lust am Text des großen Bruders noch nicht verdorben hat. Der Untertan jedenfalls, Professor Unrat und einige weitere Texte sind unserer unmaßgeblichen Ansicht nach die Lektüre immer wieder wert.

Die Dokumentationsstelle für Gefangenenliteratur an der Universität Münster hat am Donnerstag alle Inhaftierten in West- und Ostdeutschland aufgerufen, sich bis zum 31. Januar 1991(Einsendeschluß) mit Texten zum Thema „Beziehungen“ an einem Literatur-Wettbewerb zu beteiligen. Die besten Arbeiten werden mit dem Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis ausgezeichnet, der 1991 zum zweiten Mal ausgeschrieben wird.

Mit dem „Knast-Literaturpreis“, wie die Auszeichnung genannt wird, sollen Gefangene ermutigt werden, ihre Erfahrungen hinter Gittern niederzuschreiben. Zugelassen sind deutschsprachige Reportagen, Briefe, Hörspiele, Gedichte, Erzählungen oder Features. Auch Beiträge, die in Gruppenarbeit entstehen, können nach Münster geschickt werden. Mit Geld ist der Drewitz- Preis allerdings nicht verbunden. (Typisch: Wer vertraut einem Knacki schon Kohle an?) Die von einer Jury ausgewählten Texte werden in einem Sammelband veröffentlicht. 1989 erschienen die prämierten Beiträge in dem Sammelband „Risse im Fegefeuer“ (Padligur-Verlag Hagen). Die Dokumentationsstelle an der Uni Münster besteht seit 1986 und ist dem Universitätsinstitut für Deutsche Sprache und Literatur angegliedert. Hier werden unter Leitung von Prof. Helmut Koch Gefangenenzeitungen und —literatur systematisch gesammelt und ausgewertet.

Da dies aus der Meldung von dpa nicht eindeutig hervorgeht, vermuten wir an dieser Stelle, daß die Einsendungen auch dorthin zu richten sind.

Da die Nachrichtenagentur dpa heute ohnehin eine prominente Rolle in den Kurzmeldungen spielt, wollen wir unseren Lesern deren semantische Genüsse der Art, wenn auch nicht ganz der hohen Qualität der Ullmannschen nicht vorenthalten. (Für Unkundige: der Musikkritiker Andreas Ullmann — wir können uns derzeit für die korrekte Schreibweise des Namens nicht verbürgen, weil uns das heutige Exemplar der ‘Zeit‘ abhanden kam — wird von der genannten Wochenzeitung etwa viermal im Jahr in der Rubrik ‘Zeitmosaik‘ zitiert und damit gegeißelt. Die Prosa dieses Musikkritikers der ‘Frankfurter Rundschau‘ ist von einer gänzlich sinnentleerten Verve, wie sie im Bereich der Philosophie bestenfalls Herr Schweppenhäuser erreicht, mithin bemerkenswert. Wir kennen Herrn Ullmann nur durch die ‘Zeit‘, und allein mit deren ‘Mosaik‘ sowie der Rubrik ‘Finis‘ amortisiert sich wöchentlich die Anschaffung.) Nun also dpa: „Der Schleier des Geheimnisses umweht seit Jahrhunderten ihre wohlgeformten Rundungen. (Gemeint ist die Stradivari, d.Red.) Geschaffen aus Holz, Leim und Lack geben die Geigen aus der Werkstatt Antonio Stradivaris Forschern und Instrumentenbauern Rätsel auf. Ihr voller Klang läßt Virtuosen Millionenbeträge für die alten Violinen zahlen, und immer neue Tüftler versuchen, dem Zauber auf die Spur zu kommen. „Das Geheimnis ist gelüftet“, heißt es alle paar Jahre. Und in der Regel wenig später: „Alles Unfug“. (...) Aber die Frage, ob der warme Klang vom Holz, vom Lack oder vom Alter herkommt, schwebt weiter im Raum.“ Und dort lassen wir sie auch schweben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen