: Besser als die gezeigten Werke
■ Visum — ein Projekt der Künstlerwerkstatt Berlin
Ein Künstlersymposium wie viele andere, eine Klausur im mittelalterlichen Schloß unweit von Olsztyn, drei Wochen nur mit sich selbst, der eigenen Arbeit und der der anderen. Fünf Polen, fünf Deutsche, ein Deutsch-Pole. Neue Bekanntschaften, neue Freundschaften, eine Intensität in einem anderen Zeitraum. Das Projekt heißt Visum und zeugt von einer vergehenden Zeit, in der man einen Sichtvermerk brauchte, um sich gegeneinander zu besuchen. Doch die Künstler verweisen auf die wörtliche, lateinische Bedeutung des Begriffes: die Erscheinung (ein wenig gespenstisch ist das Visum im neuen Europa schon geworden).
Reszel liegt auch für die Polen am Ende der Welt. Dort arbeiteten die Künstler ungestört in einem ehemaligen Bischofsschloß in zehn Ateliers mit der einzigartigen Motivation, die aus den Gesprächen und dem Geruch der fremden Farbe entstanden ist. Aus den Erzählungen einzelner läßt sich ein sinnliches Bild zusammenstellen: die Geräusche und Gerüche sind uns vorenthalten, aber kraft der Vorstellung können wir uns veranschaulichen, was es bedeutet, drei Wochen lang vom rhythmischen Hauen eines Bildhauers begleitet zu werden; die gemeinsamen Spaziergänge mit den ins Wasser geworfenen Steinen, die dann auf einem der Bilder als Kreise wiederauftauchen, lange nächtliche Gespräche, die — aus einem expressiven Bild mit einem roten Streifen durchgestrichen — eine Erinnerung an den letzten Bergpfad des verunglückten Freundes lesen lassen.
All diese Hintergründe bleiben sonst dem Publikum, den anderen Künstlern verdeckt. Hier gehören sie dazu, sind präsent, auch auf der Vernissage mit den vielen jungen Künstlern, die es noch nicht zu ahnen scheinen, daß dieses Erlebnis einer der Höhepunkte des Unternehmens »Visum« ist. Sie wollen die Ausstellung noch in Paris zeigen, deswegen auch der deutsch-französische Katalog. Sie sind müde und möchten etwas anderes anfangen, andere Wege gehen.
Diese Ausstellung ist viel besser als die einzelnen, hier gezeigten Werke. Dazu haben nicht nur die Räume des »Querhauses« beigetragen, sondern auch die besondere Sorgfalt in der Herstellung des Zusammenspiels zwischen den Gemälden und Skulpturen, zwischen den Arbeiten und der Umgebung: die an Opfer der Folterkammer erinnernden Skulpturen von Bodo Rau in kellerähnlichen Stuben der ehemaligen Fabrik, die kleinen »Häuschen« von Rainer Fest, die auf einer Industriewaage in Augenhöhe aufgestellt sind und den Betrachter zwingen, einen Vergleich und auch ein Riskio einzugehen, weil die Fläche, die man zum Wiegen benutzte, einer getarnten Fallgrube ähnelt (eine Assoziation direkt aus dem mittelalterlichen Schloß). Das Wiegen wird hier zum ontologisch gewichtigen Wägen. Auch das Zusammenspiel des Konvexen und Konkaven bei seiner Skulpturengruppe wird von den Öffnungen in der Wand und im Fußboden nachgeäfft. Der Maler Michael Witte organisiert einen anderen Raum mit seinen Bildern und Zeichnungen, die von »Schutzschildern- Gebärmutter« und von »Kommunikation« »handeln«. Es ist eine Art Erzählung, mit Zeichen der Zeichen, also mit graphischen »Symbolen«, die über sich mitteilen sollen, daß sie Symbole sind, jedoch keine Redundanz besitzen, außer daß sie ästhetisch relevant, valent sein können. In braungrauen Tönen gemalte Schilder und die notizenähnlichen Zeichnungen bilden zusammen ein Gesamtwerk, dem man sich gerne unterwirft, das ein stilles, ruhiges Geheimnis ausstrahlt wie ein Buch Castanedas, wie das tibetische Bar-do.
Erstaunlich auch, wie sich die großen Formate von Eugeniusz Minciel in den rauh-rohen Flur einfügen: fast wie auf Bestellung für diese Interiors gemalt. Am stärksten wirkt die Ausstellung vormittags, im gemischten Licht der Spots und des Hinterhofhimmels, wenn die Produkte des performanceartigen Action-painting von Pawel Boltryk, nervöse Farbenzerreißproben von Slawomir Ratajski und Pawel Nowak ruhig von den Objekten Rainer Fests bestaunt werden. Im Querhaus Muskauerstraße soll das Herz von Kreuzberg nur bis zum 30. Dezember schlagen. Unverständlich und schade, weil diese Werke, ja sogar diese Ausstellung als Ganzes in diese Räume »organisch« hineingehören. Piotr Olszowka
Visum , noch bis 30. Dezember im »Querhaus«, Muskauer Straße 24, Berlin 36, täglich von 14 bis 19 Uhr.
17.12., 20 Uhr: Film, In der Schwebe von Waldemar Krystek
19.12., 18 Uhr: Workshop mit Piotr Olszowka: Das Ende einer Ästhetik des Widerstandes? Polnische Kunst heute
20.12., 20 Uhr: Vortrag von Ewa Kobylinska: Die Suche der Polen nach ihrer Identität und deren Weg über die Mythen des Alltags
27.12., 20 Uhr: Lesung des Lyrikers Leszek Szaruga: Sagt nicht Europa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen