: „Die Deutschen werden die Amerikaner aus Europa werfen“
■ Der norwegische Friedensforscher Johann Galtung über die europäische Militärpolitik, die Zukunft der Nato und die Krisenproduzentin EG DOKUMENTATION
taz: Unter dem Stichwort „Politische Union“ ging es bei dem EG- Gipfel in Rom auch um eine gemeinsame Sicherheitspolitik der Gemeinschaft.
Johann Galtung: Die EG will von der Konföderation zu einer Föderation übergehen. Und da geht es auch um eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Es ist selbstverständlich, daß für die EG-Zentralmacht eine EG- Militärkapazität zur Verfügung stehen wird. Es geht um die Westeuropäische Union, die WEU.
Nun sind ja immerhin drei EG- Länder gar nicht Mitglied der WEU...
Ja. Dänemark, Griechenland und Irland. Es ist einfach, ohne diese drei eine europäische Armee zu machen. Erstens können die drei der WEU beitreten, einige von ihnen haben ja schon an den Sitzungen über die Golfkrise teilgenommen. Zweitens kann man einfach sagen, die Militärsachen sind für neun und nicht für zwölf.
Die WEU verfügt ja bisher über kein eigenes Instrument. Woraus soll sich die europäische Streitmacht entwickeln?
Einen Keim sehe ich in der deutsch-französischen Brigade. Ich sehe die Manöver mit den Holländern, und ich sehe die mögliche nukleare Zusammenarbeit mit Frankreich. Das alles sind Komponenten. Aber die WEU ist ja sehr alt. Sie existierte schon vor der Nato und wurde von der Nato überholt. Man hat die WEU nicht entwickelt, weil man die Nato hat. In der WEU hat man eine parlamentarische Versammlung, dort gibt es also nicht dieselben Defizite wie zum Beispiel bei der EG- Kommission. In der WEU hat man die Militärproduktion koordiniert. Das war ganz wichtig, und alles steht bereit.
Und was passiert jetzt mit der Nato?
Ich glaube, die Rolle der Nato als europäischer Organisation ist vorbei. Man wird versuchen, ihr Einsatzgebiet auszudehnen, so daß es ihr möglich ist, im Golf zu intervenieren, nicht in Europa. Ich glaube, daß die Deutschen die Amerikaner rauswerfen werden.
Und Sie meinen ernsthaft, die Amerikaner werden sich das gefallen lassen?
Ja, wenn ein westeuropäisches Land ganz klar sagt : „Vielen Dank, daß ihr hier gewesen seid. Aber jetzt reicht es mit dem großen Opfer, ihr könnt nach Hause gehen.“ Das haben die Franzosen gesagt und die Amerikaner haben sich zurückgezogen.
Die Amerikaner werden doch nicht ihre Interessen in Europa aufgeben?
Die Amerikaner werden sich zurückziehen. Einerseits, weil sie pleite sind, und andererseits, um westliche Hauptpunkte zu befestigen. Dann werden sie von Kanada bis Feuerland immer wieder intervenieren.
Aber die Nato wird sich also nicht auflösen?
Die Nato wird entweder aufgelöst oder in eine Weltpolizei verwandelt, die in Europa allerdings nicht interveniert. In Europa sehe ich die WEU und die KSZE. Die WEU wird ganz einfach die militärische Seite der Europäischen Union sein.
Wofür oder gegen wen soll die Europäische Streitmacht eingesetzt werden?
Erstens bei inneren Problemen in Osteuropa, wenn sich im Rahmen einer sogenannten Balkanisierung die ethnischen Konflikte verschärfen. Dort wird man vor allem im Namen westeuropäischer Interessen oder Bürger eingreifen. Es könnte auch eine Polizeitruppe sein, um verfeindete Gruppen zu trennen. Zweitens in den AKP-Ländern [Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks, mit denen die EG ein Sonderhandelsabkommen hat, d. Red.] Das sind 66 Länder, in denen es schon eine ganze Menge von sehr blutigen Konflikten gegeben hat, meistens intervenierten das die Franzosen, und offensichtlich möchten die Franzosen das europäisieren. Für den ersten Fall gibt es die Peace Keeping Forces und für den zweiten Fall Rapid Deployment Forces. Als Drittes kommt eine europäische Stellungnahme gegenüber einer möglichen arabischen oder islamischen Supermacht in Betracht. Viertens schließe ich nicht aus, daß es zu einem europäischen Bürgerkrieg kommt.
Wo ist der Platz der mittelosteuropäischen Länder bei diesem Prozeß?
[Schwärmerisch:] Es wäre so schön, wenn die alten Habsburger Länder sagen könnten, wir sind eine Alternative. Wir sind diejenigen, die wirklich gute Kontakte mit Osteuropa haben, also werden wir mit Jugoslawien zusammenarbeiten.
Ein Plädoyer für mehr Regionalisierung.
Genau. Mit ökonomischer Eigenständigkeit, daß man selber Sachen macht, und nicht alles importiert, daß man nicht unbedingt zur Verfügung Westeuropas stehen will.
Nun streben aber mit Ungarn, der CSFR und Polen mindestens drei mittelosteuropäische Länder auf die EG zu. Sind die Teil Ihrer Vision von der Europäischen Union?
Ich habe selbstverständlich Ängste, daß sie diese Annäherungspolitik an die EG fortsetzen und dann auch aufgenommen werden. Dann fällt meiner Meinung nach fast die letzte Möglichkeit für ein ausgeglicheneres Europa. Dann werden die Westeuropäer ihren alten Traum verwirklichen: ein von Westeuropa dominiertes Europa.
Welche europäischen Institutionen sehen Sie, die zum Beispiel bei dem bevorstehenden Verfall der Sowjetunion eingreifen könnten?
Die KSZE, wo alles sagbar ist. Eine ständige permanente Konferenz, bei der die KSZE die Möglichkeit hat, in innere Konflikte einzugreifen. Das heißt zum Beispiel auch in Ulster, also in Nordirland. Ich habe keine Ängste vor der KSZE, denn ich sehe nicht die Möglichkeit, daß sich die 34 europäischen Länder zu einer paneuropäischen Großmacht entwickeln. Es gibt genügend Spannungen und Widersprüche, um das zu vermeiden.
Beinhaltet das auch eine KSZE- Friedenstruppe?
Nein, obwohl die weniger gefährlich wäre, weil sie bestimmt nur Handwaffen hätte. Aber ich glaube nicht an ein Westeuropa mit Handwaffen. Ich glaube, Westeuropa wird Atombomben und Laserstrahlen haben.
Aber könnte nicht gerade auch die EG in Osteuropa zur Konfliktverhütung beitragen?
Die EG? Die ist doch vor allem Krisenproduzentin. Sehen Sie, das ist genau wie bei den Amerikanern, die sich in Südamerika als Krisenverhüter verstehen. Dabei gehörten sie zu den wichtigsten Produzenten von Krisen. Es gibt eine Zusammenarbeit zwischen der EG und den Eliten in Osteuropa, um die Marktwirtschaft einzuführen. Sie sagen alle, es wird große Opfer geben. Und die Arbeiter in Osteuropa wissen genau, wer diese Opfer bringen wird, nämlich sie. Das ist das alte System.
Was hat sich seit den friedlichen Revolutionen im vergangenen Jahr für die Friedensforschung geändert?
Statt des bipolaren militärpolitischen Ost-West-Konfliktes haben wir jetzt einen Hegemonialkonflikt. Sehr sehr ähnlich der Lage auf der westlichen Halbkugel. Mit der EG in der Rolle der USA und Osteuropa in der Rolle von Lateinamerika, mit Polen in der Rolle von Mexiko und vielleicht der CSFR in der Rolle von Argentinien. Dann mit der Sowjetunion als dem großen Südamerika und den kleinen Staaten als Mittelamerika.
Und Deutschland mittenmang als Hegemonialmacht?
Ja sicher, als ein Hauptträger, vielleicht ambivalent und gespalten, aber auch mit großem Sendungsbewußtsein. Genau wie die Amerikaner über die Pax americana reden, werden wir über die Pax germanica hören. Interview: Dorothea Hahn
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