„99.300 Leute gefangenhalten, weil 700 — vielleicht — zu Gewalttaten neigen?“

■ Gespräch mit dem italienischen Psychiater Paolo Crepet, der bis 1989 das nationale Forschungszentrum für Psychiatrie leitete INTERVIEW

Crepet, 40, war Schüler des 1980 verstorbenen Psychiatrie-Reformers Franco Basaglia. Paolo Crepet arbeitet heute an Studien über Selbstmordmotive. In deutscher Sprache ist von ihm Antipsychiatrie (Köln 1989) erschienen.

taz: In den vergangenen Jahrzehnten kamen Tausende von Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern zu euch, um die „Antipsychiatrie“ zu studieren. Ist es damit nun aus?

Crepet: Kommt darauf an. Daß Teile der Regierung, neben den im Ministerium federführenden Liberalen vor allem die Sozialisten, dem Experiment der Garaus machen wollen, steht fest.

Warum wollen sie das?

Bei den Sozialisten, die hier vor allem treibende Kraft sind, steht dies im Gesamtrahmen ihrer Tendenz, vor allem die privilegierten Schichten zu bedienen und Randgruppen zu stigmatisieren. Das bereits in Kraft getretene Gesetz zur Kriminalisierung Drogenabhängiger zeigt das.

Aber die Ängste und Sorgen vieler Betroffener, die sich vor einer Krise ihrer Verwandten fürchten und keine Hilfe in der Nähe wissen, sind doch konkret?

Natürlich, und darauf haben ja gerade die „Antipsychiater“ immer wieder hingewiesen. Genau diese Situation aber hat die Regierung, mal beschwichtigend, mal unter Spar-Gesichtspunkten, immer weiter aufrechterhalten.

Kann man das so sagen — daß am Scheitern nur die Regierung selbst schuld ist?

Nicht nur sie. Es gibt auch andere Gründe. Etwa, daß die traditionellen Psychiater teilweise mit der Methode der Diffamierung gearbeitet haben, aber auch, daß die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit mittlerweile ganz anderen Dingen zugewandt hat. Die psychiatrisch Kranken haben nicht mehr, wie in den von der Studenten- und Arbeiterbewegung geprägten 60er und 70er Jahren, eine Lobby. Dazu haben Berichte über einzelne tatsächlich skandalöse Vorfälle, weil man alle Hintergründe dazu wegließ, den Eindruck erweckt, die Psychiater hätten die Patienten einfach alleine gelassen, was natürlich nicht stimmte.

Muß man nun also abwarten, ob es irgendeinen fernen Tages genug Mittel für die wirkliche Anwendung des Gesetzes gibt?

Ich hoffe nicht. Man muß eine Grundsatzentscheidung treffen. Natürlich sind die Ängste da real, wo es keine Hilfen gibt gegen voraussehbare Probleme. Aber man muß das auch von der anderen Seite her sehen: Wir hatten 1976, vor der Reform, 100.000 Menschen in den „Manicomi“, viele tausend davon sind dort aus Verzweiflung, durch Selbstmord oder Tortur gestorben.

Mittlerweile sind drei Viertel entlassen, und Statistiken zeigen, daß sie kriminell nicht auffälliger sind als alle anderen sozialen Schichten. Die Frage ist: Wollen wir, nur weil unter den 100.000 die üblichen 0,7 Prozent, mithin 700 Personen, möglicherweise zu Gewalttaten neigen, die anderen 99.300 im Irrenhaus halten, auch wenn wir wissen, daß von ihnen gut 80.000 draußen eher — oder überhaupt — gesund und die übrigen dadurch zumindest bei adäquater Behandlung nicht geschädigt werden? Interview: Werner Raith