piwik no script img

Es ist ein Zögern darin

Über Ingrid Bergmann  ■ Von Christiane Baumann

Es ist schon lange her. Es gibt die Erinnerung an eine Sanftheit, an eine Schönheit, unberührt, unberührbar — wären nicht die zwei feinen Falten, die um ihre Mundwinkel erscheinen, wenn sie lächelt. Man glaubt sich nur an eins zu erinnern, wenn man an Bergmann denkt. Das ist ihr Lächeln. Es ist so lange her, vielleicht kannte man es als Kind. Man sieht es auf ihrem Gesicht, manchmal, viel seltener, als man dachte. Vielleicht ist es das, was man Sehnsucht nennt.

Es ist nicht weit her, man sieht plötzlich auf dem ruhenden Gesicht einer älteren Frau den starren, bitteren Mundausdruck. Man erschreckt. Später entsinnt man sich an das Gesicht von Bergman in Herbstsonate. Man meint, es nicht ertragen zu können, die Einsamkeit, die Verbitterung, die Angst auf dem Gesicht der sechzigjährigen Bergman. Auch das ist vielleicht nur, was man Sehnsucht nennt.

Sie sitzt am Steuer eines offenen Kabrioletts und hat ziemlich Whiskeys intus. Sie trägt ein ärmelloses, schwarz-weiß gestreiftes Hemd und sieht nur Nebel. Cary Grant streicht ihr eine Haarsträhne aus den Augen weg und sie sieht wieder klar. Sie fährt ein wenig schnell und fragt Cary Grant, wieviel der Tachometer anzeigt. Er antwortet: „Fünfundsechzig Meilen.“ Sie drückt aufs Gaspedal und bringt den Wagen auf hundert. Cary Grant hält sich fest, er hält sich an ihr fest, an etwas, was man ahnt und wähnt und was manchmal überwältigend ist: die Großzügigkeit der Bergman. In Notorious ist Ingrid Bergman einunddreißig Jahre alt. Sie ist nicht einfach schön, sie ist nicht nur groß, sie ist bereits ein wenig mehr. Wenn sie getrunken hat, ist sie eine Spur ordinär. Man liebt sie darum.

Bei ihrer Ankunft in Hollywood, sie ist vierundzwanzig Jahre alt, nimmt sich der Produzent David O. Selznick ihrer an. Als er sie zum erstenmal vor sich stehen sieht, bittet er sie, sich doch die Schuhe auszuziehen. Ihr Name gefällt ihm nicht, ihre Zähne sind nicht ganz in Ordnung, einiges an ihr müsse gefeilt, zurechtgebogen werden. Sie sagt nein. Außerdem trüge sie schon flache Schuhe. Sie ist nicht kleiner zu kriegen. Sie bereitet ein Hähnchen zu, im Hintergrund sieht man die Bucht von Rio de Janeiro. Sie küßt Cary Grant, lange, sehr lange, im Hintergrund sieht man noch immer die Bucht von Rio de Janeiro. Mit dem Hähnchen kann es nur schiefgehen, und es geht auch schief. Sie serviert zwei schlecht erkennbare, dunkle Stücke auf zwei weißen Tellern. Man achtet kaum darauf, man vergißt es bald wieder. Später erst erinnert man sich an das verbrannte Hähnchen, das Bergman in Notorious servierte. Vielleicht war es das, der winzige Fauxpas, der die unerhörte Sinnlichkeit, den Glanz und die Präsenz der Bergman überhaupt leicht hinnehmen ließ.

Sie trägt einen offenen, weißen Kittel und eine Brille. Sie hat ein sehr junges, rundes Gesicht: das Nochnicht-Gesicht eines Mädchens mehr denn einer Frau, das Gesicht eines Davor. Wenn sie ihre Brille absetzt, ist sie noch immer kurzsichtig. Sie kneift unmerklich die Augen, wie es nur Kurzsichtige zu tun vermögen und schaut ein wenig fremd und verwundert auf die Welt. Sie verliebt sich, sehr schnell, in Gregory Peck. In Spellbound gibt es ein Abwesendsein der Bergman, sich selbst und den anderen gegenüber. Sie ist da und zugleich nicht da. Man kennt es. Man schaut selbst ein wenig verwundert zu. In viel späteren Filmen taucht es unversehens auf, auf dem Gesicht der reifen Bergman: Für einen Augenblick sieht man das Ernsthafte, das Versunkene — das Offene der Neunundzwanzigjährigen. Es entschwindet also nie, es verweilt, das Noch-nicht.

Als Bergman insgeheim während eines Empfangs den Schlüssel des verbotenen Kellers Cary Grant übergeben muß, streicht sie ganz leicht mit dem Daumen über seine Hand. Eine flüchtige Berührung, die ihr wie aus Versehen entgleitet. Eine flüchtige Hommage an den Geliebten, ein Erinnern. Warum ist dafür keine andere Geste vorstellbar?

„Lieber Herr Rossellini, ich sah Ihre Filme Rom, offene Stadt und Paisa, und sie gefielen mir sehr. Wenn Sie eine schwedische Schauspielerin gebrauchen können, die sehr gut englisch spricht, die ihr Deutsch nicht vergessen hat, aber im Französischen nicht besonders gut ist und die auf italienisch nur ,Ti amo‘ sagen kann, dann bin ich bereit zu kommen und einen Film mit Ihnen zu drehen. Ingrid Bergman“.

Sie trägt graue Männerhosen und ist einen Kopf größer als die Italiener und die Italienerinnen, die Einwohner von Stromboli, die auf der Leinwand zu sehen sind. Man sieht es. Man sieht ihre Beine und ihre Knie, und sie sind knochig und weiß. Man sieht ihre Füße, sie hat große Füße. Man sieht, wie sie neben ihrem schlafenden Mann morgens wachliegt, sie hat die Augen einer Frau, die in der Nacht mit ihrem Mann geschlafen hat und am Morgen wachliegt. Man sieht ihre Haare, fettig und strähnig in der Meeresluft. Man sieht die Tbc- Narbe auf ihrem linken Oberarm, wenn sie im Unterrock steht und sich ein Hemd überzieht. Man sieht, wie sie im Wasser mit Kindern plätschert, sie krempelt ihren Rock hoch, mit der Ungelenkigkeit eines Kindes. Ingrid Bergman ist vierunddreißig Jahre alt, und wenn sie sich grämt, hat sie die bitteren Züge um den Mund, die den Mund der sechzigjährigen Frau zeichnen werden. Sie liegt auf dem Abhang des Vesuvs, und wenn sie sagt: „Ich habe Angst“, schiebt sie schließlich ihren Arm vor das Gesicht und schützt sich damit. Es gibt keine andere Bewegung, wenn man Angst hat. Es scheint, als hälfe nur das Lachen, wenn man Bergman in Stromboli weinen und sich grämen sieht. Oft hilft nur das Lachen, um Unerträgliches zu ertragen, um sich der Scham nicht zu schämen. Oder das Weinen.

In Stromboli ist Bergman zu sehen, ganz und gar. Sie hat Hollywood und ihren Mann verlassen. Sie spielt in einem Film von Rossellini. Ingrid Bergman in un film die Roberto Rossellini.

Manchmal schaut man ihr nur zu. Man tut nichts anderes. Man schaut ihr nur zu.

In ihrem Haar schimmert das Grau. Sie ist neununddreißig Jahre alt und spielt eine neununddreißigjährige Frau. Sie fährt durch Italien mit ihrem Mann. Viaggio in Italia. Wenn sie sich zu einer Hoteltür begeben, zum Wagen, läßt George Sanders Ingrid Bergman vorgehen und berührt sie dabei leicht am Arm. Es ist die einzige Berührung, die zwischen den beiden vorkommt. Man weiß nicht, ob sie von ihm oder von ihr kommt. Sie fährt Auto, allein. Sie besichtigt ein Museum, eine Grotte, einen Vulkan. Sie ist noch immer einen Kopf größer als der Einheimische, der sie bei ihrer Wallfahrt begleitet. Wenn sie Auto fährt, hält sie ihren Mund klein und zugepreßt, man erkennt ihren Mund nicht. Sie hat Ringe unter den Augen und die gezeichneten, ermüdeten Gesichtszüge nicht einer Schauspielerin, sondern einer Frau.

Wenn Ingrid Bergman Auto fährt und Liebespaare, schwangere Frauen, Frauen mit Kinderwagen sieht, schaut sie, als hätte es das nie gegeben, Liebespaare und Kinder. Im Leben hat sie vier Kinder, und sie liebt, sie liebt Roberto Rossellini. Er filmt sie, er filmt nicht die Geliebte, nicht die Mutter, er filmt die letzte Leere, den kleinen, verlorenen, heimatlosen Teil in ihr, die gebliebene und immerwährende Fremdheit. Einmal klettert sie auf eine Höhe, sie steht und schaut auf das diesige Capri. Sie trägt ein langes, graues Kostüm, eine Sonnenbrille und eine Handtasche. Sie steht, und es ist ein Zögern darin. Vielleicht ist es mehr als das, was man Sehnsucht nennt.

Sie spielt nie sich selbst, sie bleibt immer sich selbst.

Sie sitzt an einem runden Tisch mit George Sanders und zwei Italienern und ißt Spaghetti. Sie weiß nicht, wie man es tut: Ihr gelingt nur, zwei oder drei Spaghetti auf einmal zu greifen. Dann faßt sie Mut, sie schiebt sich elegant eine volle Gabel in den Mund. Zum erstenmal sieht man jemanden, der nie in seinem Leben Spaghetti gegessen hat.

Sie sitzt im Liegestuhl in einem hochgeschlossenen, anthrazitfarbenen Kleid, sie knöpft es ein wenig auf. Man sieht nur noch die Helligkeit des Halses, seine Bewegung. Es scheint, als wären Zartheit und Stärke, Vergänglichkeit und Dauer immer nur eins gewesen.

Mit zweiundvierzig Jahren kehrt Ingrid Bergman nach einer Abwesenheit von acht Jahren nach Amerika zurück. Hollywood argwöhnt ihr noch immer ein wenig, und vielleicht ist dies eine Angst vor dem Frevel, den Bergman in den Rossellini- Jahren an sich beging — nicht immer und nicht wirklich wie Ingrid Bergman auszusehen.

In Indiskret schaut Cary Grant ihr zu mit solch einer Ruhe und solch einer Gewißheit, daß diese Ruhe und diese Gewißheit der Schauspielerin Ingrid Bergman und nur ihr gelten können. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt. Von ihr sieht man zunächst nur die Silhouette in einem beige-braunen Mantel, es ist die Silhouette einer dreiundvierzigjährigen Frau. Sie trinkt noch immer gern und manchmal steigt ihr die Röte ins Gesicht. Ihre Haare sind kastanienbraun und ihre Augen blaugrau. Sie trägt einen weißen, wattierten Mantel mit schwarzen Blumen, einen pastellblauen, enganliegenden Pullover, ein gelbes ausladendes Abendkleid mit dünnen Trägern, einen sehr roten Morgenrock. Sie lacht oft, sie lacht viel. Wenn sie Eierkuchen für das Frühstück zubereitet, legt sie säuberlich die goldgelben Eierkuchen auf zwei weiße Teller. Als sie erfährt, daß Cary Grant sie betrogen hat, langt sie beherzt beim Essen zu und wirft ihm ein strahlendes, mörderisches Lächeln zu. Manchmal wird einem bange, sie könne nicht mehr Bergmann sein. Manchmal täuscht man sich. Sie hört nicht auf, begehrenswert zu sein. Man sieht sie altern. Man sieht, wie man das Altern nicht zu fürchten braucht.

Sie trägt einen streng zugeknöpften, weißen Kittel und eine weiße Haube. Sie sitzt im Vorzimmer einer Zahnarztpraxis und hat den eisernen Charme einer vierundfünfzigjährigen Zahnarztassistentin mit weißer Haube und hochgeknöpftem Kittel. In Cactus Flower gibt sich Ingrid Bergman um eines fragwürdigen Mannes willen mit noch fragwürdigeren Männern ab. Man sieht sie dann in einem blaßblauen, langen, unzumutbaren Satinkleid Jerk tanzen, inmitten von Jugendlichen, die sie allesamt überragt. In diesem Augenblick vielleicht gewahrt man, daß man Ingrid Bergman nie mit einer Laufmasche im Seidenstrumpf sah, daß sie nie auf der Straße stolperte, weil ihr der Schuhabsatz brach. Daß ihre Fragilität nicht darin besteht, daß es ihr widerfuhr, sondern darin, daß es ihr nicht widerfuhr.

Als sich Ingrid Bergman ihrer Krankheit bewußt wurde, schaute sie auf ihr Leben zurück, sie schrieb ihre Erinnerungen. Einem Journalisten, der sie zuvor nach den Gerüchten um ihre Krankheit gefragt hatte, antwortete sie, Ja, sie habe Krebs. Die Welt würde deswegen doch nicht untergehen.

In diesem Jahr wäre Ingrid Bergmann fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Man vergißt es, und man schaut ihr zu.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen