Sanierung eines Anachronismus

■ Die „Chorrilleros“ kämpfen um den Wiederaufbau ihres bombardierten Viertels

Panama-Stadt (taz) — „Letzte Nacht stellten wir dieses Kreuz auf, um der Toten zu gedenken“, erzählt die 41jährige Ester Gomez, „die ganze Nacht wechselten wir uns ab beim Rosenkranzbeten“. Die nächtliche Trauerfeier wurde Tag für Tag wiederholt bis zum Jahrestag der US-Invasion. Das Holzkreuz, von weißen Mullbinden umwickelt, steckt mit dem selbstgebastelten Altar auf einer Brachfläche, wo vor einem Jahr noch ein Mehrfamilenhaus stand. Dahinter ragt der waldige Ancon Hill in den Himmel — der Hügel, der den Sitz des Südkommandos der US-Streitkräfte beherbergt, wo der Plan für die Invasion vom 20. Dezember 1989 ausgeheckt wurde. Auf der anderen, dem Meer zugewandten Seite erheben sich die Silhouetten von riesigen Kränen, die im Schnellverfahren ein Dutzend Fertigteil-Wohnkasernen in die Höhe ziehen. Von der Kaserne, die das Zentrum des Chorrillo-Bezirks bildete, ist kein Stein mehr übriggeblieben. Auch die Reste der angrenzenden Häuser, die dem Bombenhagel der Invasionstruppen zum Opfer fielen, wurden säuberlich entfernt. Über die öde Fläche mag Gras gewachsen sein, aber für die Chorrilleros — die Einwohner von Chorrillo — ist die Erinnerung noch lebendig. Ester Gomez mußte ein halbes Jahr in einer Notunterkunft auf der Albrook-Luftwaffenbasis verbringen, bis ihre Wohnung restauriert war. Ihre Tochter Julia hatte gegenüber in einem Holzbau gewohnt, der völlig eingeäschert wurde. Hochschwanger mußte sie damals aus der Kriegszone flüchten. Ihr inzwischen achtmonatiger Sohn ist trotz seiner schwarzen Hautfarbe blaß und trägt alle Anzeichen der Mangelernährung. „Keiner hat hier Arbeit“, klagt Julia. Der Vater ihres Babys sitzt ohne formale Anklage hinter Gittern, der Vater ihres sechsjährigen Sohnes ist erwerbslos. Frau Gomez ist verbittert: „Keinen einzigen Chorrillero haben sie auf den Baustellen beschäftigt.“ Der 32jährige Agraringenieur Eduardo Smith wohnt im 10. Stock des 24.-Dezember-Gebäudes, einer tristen Wohnkaserne, wo jede Familie mit 35 qm Lebensraum auskommen muß. Als er nach den ersten Tagen in seine Wohnung zurückkehren wollte, fand er das ganze Gebäude von GIs abgeriegelt: „Sie würden für die Sicherheit der Wohnungen garantieren, versicherten sie.“ Doch zwischen dem Abzug der Invasoren aus dem Bezirk und der Rückgabe der beschädigten Gebäude an die Mieter vergingen mehrere Tage — Zeit genug für professionelle Plünderer. Eduardo Smith fand seine Wohnung leergeräumt. Selbst den Wandschrank und die Klomuschel hatten sie abmontiert. Nur für die Bücher hatten die Eindringlinge offenbar keine Verwendung. Als Entschädigung gab es pauschal für jede Familie 800 Dollar — gerade genug für einen Kühlschrank, einen Herd und zwei Betten beim Gebrauchtwarenhändler.

Eduardo Smith gehört zu den Gründern eines Komitees der Kriegsvertriebenen: „Die Bezeichnung Obdachlose lehnen wir ab — schließlich sind wir nicht Opfer einer Naturkatastrophe.“ Am 20. jeden Monats organisiert das Komitee einen Protestmarsch. Wichtigste Forderung: Die Regierung soll von den USA Reparationsleistungen für die Kriegsschäden fordern, die auf zwei Milliarden Dollar geschätzt werden. Am 20. September wurde eine Abordnung der Demonstranten von Präsident Endara empfangen und konnte ihm eine Reihe von Konzessionen abringen. Darunter die Erhebung eines Arbeitslosenzensus und den Bau von Wohnhäusern in Chorrillo. Die rund 500 Familien, die noch in einem Hangar der Albrook-Luftwaffenbasis unter unvorstellbaren Bedingungen hausen, treten dafür ein, daß jeder sein Haus selber baut. Die vorhandenen Mittel sollen für Material und Arbeitslohn eingesetzt werden.

Chorrillo ist als Wohnviertel so alt wie der Kanal. Die inzwischen heruntergekommenen Holzbauten wurden damals für die aus der Karibik und Europa importierten Kanalarbeiter errichtet. Schon immer galt es als unsichere Gegend, doch jetzt haben Drogensucht und Kriminalität das Viertel in ein kleines Harlem verwandelt, von dessen Besuch allen Ortsfremden dringend abgeraten wird. An der Wiederherstellung von Chorrillo ist die Regierung offensichtlich nicht interessiert. Am liebsten hätte sie alle Obdachlosen in anderen Stadtvierteln angesiedelt. Im Grunde hätten die US-Truppen mit ihrem Bombenangriff der neuen Regierung die Sanierung eines anachronistischen Viertels abgenommen — das ist die Theorie von Alvaro Uribe vom Institut für Heimatforschung an der Nationaluniversität. Die Theorie hat einiges für sich. Wo einst Noriegas Hauptquartier stand, soll ein Park mit Springbrunnen entstehen und dahinter ein mondänes Einkaufszentrum. Wo eine ganze Häuserreihe weggefegt wurde, bleibt das Gelände für Privatinvestoren reserviert. Ralf Leonhard