: Tierstau und Kannenschwanken
■ »Menschen — Tiere — Sensationen« in der Deutschlandhalle
Kein Mensch hat was dagegen, daß Kaiser's Europas größte Zirkusshow Menschen — Tiere — Sensationen sponsert, aber muß man deshalb gleich die Leute erschrecken? Muß man denn wirklich dem staugeplagten, verfrorenen Ankömmling im kritischen Moment des Betretens der Deutschlandhalle den Anblick gigantischer roter Schaumgummi-Kaffeekannen zumuten, die auf dünnen Beinchen laufen? Hingegen hübsche Kaiser's-Verkäuferinnen, die jedem Gast ein Täßchen Kaffee oder Glühwein offerierten — das wäre wahre Menschenfreundlichkeit. Erst recht in der Pause. Von Block A bis F das gleiche schreckliche Bild: Menschen, die Schlange stehen für einen Plastikbecher Deutschlandhallenplörre, aber weit und breit kein gnädiger Kaiser mit einem dampfenden Tablett. Dafür überall diese schwankenden Kaffeekannen, die Kinder aus dem Hinterhalt mit zahnverderblichem Zeug beschmeißen. Das war nicht schön, aber es paßte doch zur Veranstaltung. Die nächste Enttäuschung folgte auf dem Fuße. Auf ein hautnahes Zirkuserlebnis hatte die Besucherin sich gefreut. Den freien Flug der Akrobaten wollte sie zitternd verfolgen, Elefantenmist schnuppern, in Löwenrachen starren und ein bißchen mit begnadeten Körpern flirten. Ganz vorn am Geschehen teilhaben wollte sie. Statt dessen wird ihr ein Plätzlein ganz oben am Hallenrand angewiesen. Vor ihren Augen liegt ein riesiges Kuchenblech und in dessen Mitte ein ganz kleiner, runder Keks. Das ist die Manege. Und diesen kleinen Keks betritt ein Mensch, der in seinem roten Jagdrock so aussieht wie Paul Schockemöhle und der auch ungefähr dessen Charme versprüht. Männi Neeser, so heißt er, sieht, daß die Premiere nicht ausverkauft ist, und leiert schlechtgelaunt Daten und Anfangszeiten der nächsten Vorstellungen herunter. Die schlechte Laune ist ihm nicht zu verdenken, aber zu einem Conférencier oder Sprechstallmeister gehört nun mal, daß er mit glühender Begeisterung auf jede Nummer einstimmt. Männe hat an diesem Abend keine Lust, die Stimmungskanone zu spielen.
Die erste Nummer erinnert an den Anfahrtsweg. Pferde im Stau oder Gegenverkehr. Pferdefreiheit nennt sich das hier. Einer der 18 Araberhengste ist von seiner Freiheit so begeistert, daß er den anderen bei jeder Gelegenheit seinen Hufabdruck in den Pelz brennt. Danach geht es aber richtig los. Ein Familienvater namens Odintsov balanciert eine drei Meter lange Stange im Mund, an deren oberem Ende sich seine vier Söhne aufhalten. Zwei asiatisch lächelnde Asiatinnen verdrehen ihre Wirbelsäulen, bis man es kaum noch aushält vor mitfühlendem Schmerz. Über sieben Kamele fliegt per Salto die Truppe Mongolia, und die Nicolofis hüpfen treppauf, treppab auf einer Hand. Einer von ihnen beherrscht den mit ziemlicher Sicherheit weltschnellsten Flickflack. Weltniveau überhaupt. Vom Moskauer Staatszirkus kommt die Gruppe Lev mit Sensationsakrobatik am Hochreck, untermalt von unheilschwangeren Klängen, und ein junger Schweizer namens Serge Percelly jongliert so hinreißend mit Tennisschlägern, daß man deren Verwendung durch Boris oder Steffi für verkrampften Mißbrauch halten muß. Hätte man das alles nur wirklich miterleben können. Ganz nah dran. So nah wie Wolfgang Menge, der mit anderer Fernseprominenz die vorderen Ränge besetzte. Der Normalbezahler sah von diesen Menschen und Tieren und Sensationen nicht viel mehr als vom Fingerspiel des Justus Frantz in der Waldbühne.
Wolfgang Menge dürfte übrigens an diesem Abend einen kleinen Schrecken davongetragen haben, den wir ihm recht herzlich gönnen. Um ein Haar wäre sein Schädel der dümmsten Nummer zum Opfer gefallen: Ronnys Fußballhunde wiederholten das Endspiel gegen Argentinien. Eigentlich bestand die Nummer nur darin, daß sich ein Haufen Boxer für Pitbulls hielt. Man schnappte nach Luftballons wie auf dem Kinderspielplatz nach durch die Luft schaukelnden Mädchenwaden. Einer dieser Luftballons flog sachte über den Manegenrand, dorthin, wo Wolfgang Menge saß. Ronnys Mittelstürmerhund flitzte los und landete mit dem Vorderlauf auf Menges Schoß. Andere Vorkommnisse außerplanmäßiger Art sind nicht zu vermelden. Dose
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