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Brecht und kein Ende?

Der Shakespeare des 20.Jahrhunderts liegt in Neuausgabe vor  ■ Von Hans Christoph Buch

Vor Brechts Wohnhaus in der Berliner Chausseestraße 125 warten zwei Besucher auf Einlaß — eine jüdische Schriftstellerin aus New York und ich. Vor dem Gebäudekomplex in der Normannenstraße, der bis vor kurzem das Ministerium für Staatssicherheit beherbergte, stehen zweitausend frierende DDR-Bürger, von Fotografen mit Blitzlichtern umschwärmt, seit Stunden Schlange. Erich Mielke stiehlt Bertolt Brecht die Schau, zumindst an diesem 9.November, dem Jahrestag der ersten deutschen Revolution, die ohne den Segen und vermutlich gegen den Willen des marxistischen Klassikers stattfand. „Nie wieder Stasi!“ hat jemand auf den Rauhputz der Mauer gesprüht, und im Gästebuch, das im Vorzimmer des einst allmächtigen Stasi-Chefs ausliegt, hat sich ein ehemaliger Häftling mit den Worten verewigt: „Mielke in Moabit und ick in der Normannenstraße — Wahnsinn!“

Rückblick 1

Das Werk von Bertolt Brecht — die Gedichte mehr als die Stücke — hat mich, wie die meisten Angehörigen meiner Generation, die durch die Studentenrevolte von 1968 geprägt wurden, als Ratgeber an guten und schlechten Tagen ständig begleitet. Neben den blauen Bänden der Marx- Engels-Ausgabe des Dietz-Verlags, kurz MEGA genannt, gehörten die in graues Leinen gebundenen Suhrkamp-Bücher von Brecht, die ebenso schlicht daherkamen wie ihr in eine Mönchskutte gekleidete Verfasser, jahrzehntelang zur Grundausstattung jeder linken Bibliothek. Grundbegriffe des epischen Theaters wie der vom „Umfunktionieren“ mittels „V-Effekt“ und von den „Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“, die nur durch Brechtsche „List“ zu unterlaufen seien, wurden damals so inflationär gebraucht, daß sie zur Bedeutungslosigkeit verblaßten. Ein gewisser Überdruß, hervorgerufen durch die Überfütterung mit brechtscher Rhetorik, wurde unüberhörbar seit Mitte der siebziger Jahre von Theaterkritikern formuliert, die auf den erhobenen Zeigefinger des Meisters ebenso allergisch reagierten wie auf das mit der Belehrung verbundene politische Programm: vom „Einfachen, das schwer zu machen ist“ bis zum „Gespräch über Bäume“, das „fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“. Obwohl in Brechts Gedichten häufig von Bäumen die Rede ist (Vom Klettern auf Bäumen, Der Pflaumenbaum, Die Pappel vom Karlsplatz) und obwohl im Theater am Schiffbauerdamm demnächst ein Parlament der Bäume tagen soll, konnte sich das ökologische Denken der achtziger Jahre nur schwer auf Brecht berufen, dessen marxistischer Glaube an die technische Beherrschung der Natur (einschließlich der Machbarkeit des Menschen) allzu ungebrochen war: „Die Wolga, lese ich, zu bezwingen/ Wird keine leichte Aufgabe sein. [...] aber, lese ich, die Sowjetmenschen/ Die sie lieben, die sie besingen, haben sie/ Neuerdings studiert und werden sie/ Noch vor dem Jahre 1958/ Bezwingen (Hervorhebung von mir). Kein Wunder, daß die Vordenkerinnen des Feminismus nicht viel anfangen konnten mit einem patriarchalischen Dichter, der seine wechselnden Geliebten als Huren oder Heilige, Mütter oder Revolutionärinnen konsumierte und wegwarf. Ohne den aktiven Anteil von Frauen von Margarete Steffin, Ruth Berlau und Helene Weigel wäre Brechts Theaterarbeit nicht denkbar.

Zweifel an der Aktualität seines Denkens gibt es nicht erst seit dem 9.November 1989, der den von Brecht bejahten Arbeiter- und Bauernstaat, dessen Regime sich zu seiner Rechtfertigung bis zuletzt auf ihn berief, in neuem Licht erscheinen läßt. „Doch die Verhältnisse, sie waren nicht so!“ könnte man mit Peachum aus der Dreigroschenoper konstatieren, oder mit den Worten Galileis aus Brechts gleichnamigem Stück: „Die alten Lehren, die tausend Jahre geglaubt wurden, sind ganz baufällig; an diesen riesigen Gebäuden ist weniger Holz als an den Stützen, die sie halten sollen.“ Die Eroison der marxistischen Ideologie hat lange vor der kopernikanischen Wende vom Herbst 1989 eingesetzt; und gegen den Verschleiß durch die von seinem Autor gewollte Politisierung erwies sich das Werk von Brecht nur wenig resistent.

Die Theorie des epischen Theaters, auf deren „Wissenschaftlichkeit“ Brecht besonders stolz war und, ähnlich wie Goethe auf der Farbenlehre, hartnäckig insistierte, war schon zu Lebzeiten ihres Autors überholt und stammte noch dazu aus zweiter Hand. Ihr Kernstück, den Kunstgriff der „Verfremdung“ (russisch: ostranenije) hatte lange vor Brecht der Schriftsteller Viktor Schklowskij definiert, dessen Theorie der Prosa Brecht vermutlich durch den zum linken Flügel der Formalisten gehörenden Sergej Tretjakov kennenlernte; und der von Brecht bewunderte Regisseur Orson Welles beschwerte sich wiederholt über den doktrinären Zug des Dichters, dessen schulmeisterliche Belehrungen er sich verbat. „Brecht was very, very toresome today until I was stern and a trifle shitty“, schrieb er im Mai 1946 an Charles Laughton: „Then he behaved.“ Hinzu kommt, daß Brechts Theaterpraxis, gerade in ihren gelungensten Beispielen, den theoretischen Anspruch widerlegt: Allen Regieanweisungen und Absichtserklärungen ihres Autors zum Trotz haben sich Generationen von Theaterzuschauern in die HeldInnen seiner Stücke, Polly und Peachum, Pelagea Wlassowa und Mutter Courage, Puntila und Matti, Schwejk und Galileo Galilei eingefühlt. Gleichzeitig haben die frühen Stücke von Brecht: Baal, Im Dickicht der Städte, Mann ist Mann, Mahagonny usw., in denen der anarchistische Protest gegen die Bürgerwelt noch nicht ideologisch kanalisiert erscheint, bis heute nichts von ihrer poetischen Kraft und Frische eingebüßt; ähnliches gilt für Brechts späte Gedichte, aus denen, nach dem Arbeiteraufstand des 17.Juni 1953 und den Enthüllungen Chruschtschows auf dem 20.Parteitag der KPdSU, eine fortschreitende Desillusionierung spricht. Die Frage, ob Brecht, hätte er den Bau der Mauer und den durch die Biermann-Affäre ausgelösten Exodus des kritischen Geistes aus der DDR erlebt, sich vom realexistierenden Sozialismus distanziert hätte, ist pure Spekulation und muß deshalb unbeantwortet bleiben.

Joint-venture

Von der im Suhrkamp- und Aufbauverlag erschienenen neuen Edition der Werke Bertolt Brechts, die sich im Untertitel, nicht eben unbescheiden, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe nennt, liegen bislang zehn Bände vor: sechs Bücher mit Dramen und je zwei mit Gedichten und Prosa, die neben dem jeweiligen Erstdruck auch spätere Textfassungen berücksichtigen sowie die bei Brecht häufigen Umarbeitungen und Varianten. Hinzu kommt ein nicht zu knapper Kommentar, der über Entstehung und Wirkung der einzelnen Werke zuverlässig Auskunft gibt. Es ist zu früh, das ganze Unternehmen schon jetzt zu beurteilen, aber die Fleißarbeit der Herausgeber Wener Hecht, Jan Knopf, Klaus-Detlef Müller und Werner Mittenzwei nötigt Respekt ab. Zwar ist die vorliegende Edition kein Ersatz für eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Bertolt Brechts, aber sie ist ein Meilenstein auf dem Weg dorthin. Gleichzeitig hat diese deutsch-deutsche Joint-venture aus den letzten Tagen des Kalten Krieges das Verfallsdatum der DDR bereits überschritten. Überall dort, wo der zweite deutsche Staat sein ideologisches Selbstverständnis im Kommentar festzuschreiben versucht, hat dieser inzwischen nur noch musealen Wert: Etwa wenn im Zusammenhang mit den Buckower Elegien von „faschistischen Kräfte(n)“ die Rede ist, die „mit Unterstützung entsprechender Kreise aus dem Westen den gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse in der DDR anstreben“. Daß Brecht solche Propagandamärchen geglaubt hat, macht sie nicht überzeugender; auch Ernst Bloch und Heinrich Mann sind Stalins Lügen über die Moskauer Prozesse aufgesessen. Ich bin gespannt darauf, wie die Herausgeber künftiger Bände Brechts politische Haltung kommentieren werden, wenn keine Staatspartei mehr Loyalitätsbekundungen von ihnen verlangt.

Rückblick 2

Mitte der sechziger Jahre besuchte ich zusammen mit Hubert Fichte und Nicolas Born die Brecht-Inszenierungen des Theaters am Schiffbauerdamm (Dreigroschenoper, die Mutter und Arturo Ui), das damals noch nicht zum Wachsfigurenkabinett erstarrt war. Brechts kaltschnäuziger Materialismus ließ uns kalt; ein Satz wie: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, hatte längst seine Frechheit verloren und klang in unseren Ohren wie ein Werbeslogan für die gleichzeitige Freß- und Konsumwelle im Wirtschaftswunderland. Ende der sechziger Jahre wurden Brechts literaturhistorische Essays aktuell, in denen dieser seine Absage an Georg Lukàcs' Konzeption des sozialistischen Realismus mit formaler Offenheit und Experimentierfreude verband, ohne seine politische Parteinahme zurückzunehmen: Stichworte, die in der Literaturdiskussion nach 1968 zentrale Bedeutung gewannen. Daß Brechts Aufsätze gegen Lukàcs erst dreißig Jahre nach ihrer Niederschrift posthum veröffentlicht werden konnten, scheint kaum einem der damaligen Rezensenten aufgefallen zu sein. Den „Stalinisten“ Brecht entdeckte ich erst spät, angeregt durch Begegnungen und Gespräche mit osteuropäischen „Dissidenten“. Von allen Lobrednern Stalins sei ihm Brecht am meisten verhaßt, sagte mir der russische Lyriker Joseph Brodsky einmal sinngemäß, weil Brecht Stalin intelligent verteidigt habe und noch dazu ein großer Dichter gewesen sei. Daß mittelmäßige und schlechte Schriftsteller auf den Bauernfänger aus Georgien hereinfielen, fuhr er fort, sei nicht weiter verwunderlich; dem menschlichen Opportunismus sind keine Grenzen gesetzt. Aber daß Brecht die Wahrheit über Stalins Verbrechen gekannt und trotzdem geschwiegen habe, verzeihe er ihm nicht.

Brechts Texte bestätigen diesen deprimierenden Befund: die Irritation über das Schicksal seiner in Stalins Lagern verschollenen Freunde Sergej Tretjakov, Carola Neher und Michail Koltsov vertraute er zwar seinem Tagebuch an, hütete sich aber, außer in privaten Briefen, öffentlich für die Verhafteten einzutreten. Hinter Brechts sogenannter List verbirgt sich in vielen Fällen opportunistische Anpassung; zwar las er die Schriften von Trotzki, Gide und anderen, die gegen Stalins Unfehlbarkeitsdogma Einspruch erhoben, aber im entscheidenden Augenblick hat Brecht stets der höheren Weisheit der Partei widerwillig seinen Tribut gezollt. Gegenüber einem New Yorker Freund verteidigte er die Moskauer Prozesse mit dem Satz, wenn die Angeklagten unschuldig seien, hätten sie erst recht die Todesstrafe verdient. Und in seinem Lehrstück Die Maßnahme hat Brecht das Prinzip der Säuberungen bis hin zur physischen Liquidierung theoretisch vorweggenommen, lange bevor Stalin seinen Gehilfen Jagoda und Jeshow den Befehl zum millionenfachen Mord gab: „Er sagte noch: Im Interesse des Kommunismus/ Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen/ Aller Länder/ Ja sagend zur Revolutionierung der Welt. Die drei Agitatoren: Dann erschossen wir ihn und/ warfen ihn hinab in die Kalkgrube./ Und als der Kalk ihn verschlungen hatte/ Kehrten wir zurück zu unserer Arbeit./ Der Kontrollchor: Und eure Arbeit war glücklich/ Ihr habt verbreitet/ Die Lehre der Klassiker/ Das Abc des Kommunismus“ usw. usf. Das ist schwer erträglich; und es gehört zur Ironie der Geschichte, daß dieses Stück, das den von Stalin inzsenierten Terror auf der Bühne transparent machte, in der Sowjetunion nie aufgeführt worden ist.

Fazit

„Brecht ist der Shakespeare des 20.Jahrhunderts“, mit diesen emphatischen Worten begrüßte mich der inzwischen verstorbene Romancier Alejo Carpentier, als ich ihm vor zwölf Jahren in der kubanischen Botschaft meine Aufwartung machte. Carpentier hatte recht: Brecht, der die Schaffensqualen minder begabter Dichter nur vom Hörensagen kannte, hat keine schlechten Texte geschrieben, so wie es keinen schlechten Vers von Shakespeare oder von Goethe gibt. Selbst seine auf Bestellung geschriebenen Gedichte, die in der DDR in Schulportale und Denkmalsockel eingemeißelt wurden, sind, in ihrer raffinierten Schlichtheit, große Poesie. Aber durch den Hinweis auf die unbezweifelte Qualität seines Werks sind die Zweifel an Brechts politischer Haltung noch nicht widerlegt. Nach dem 17. Juni 1953 hat Brecht in einem Telegramm an Ulbricht die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes gerechtfertigt, gleichzeitig aber in einem Gedicht, das erst nach seinem Tode erschien, die Regierung aufgefordert, sich ein anderes Volk zu wählen — eine Doppelstrategie, die an Doppelzüngigkeit grenzt. Dieses Brechtsche Erbe hat in der DDR verheerend gewirkt. Der Dichter mit dem großen Durchblick, der für alle Welträtsel eine marxistische Antwort parat hatte, ist tot; die Wirklichkeit hat seine sekuläre Heilserwartung Lügen gestraft. Überall dort, wo die Ideologie den Text überwuchert, ist er heute nur noch von historischem Interesse und wirkt merkwürdig anarchronistisch wie das Lob der Partei in der Maßnahme: „Sieh nicht nur mit deinen Augen!/ Der einzelne hat zwei Augen/ Die Partei hat tausend Augen./ [...] Der einzelne kann vernichtet werden/ Aber die Partei kann nicht vernichtet werden./ Denn sie beruht auf der Lehre der Klassiker“, usw. Der Dichter der Erinnerung an die Marie A. aber, der die Welt nicht durch die Brille der Ideologie, sondern mit seinen eigenen Augen ansah, vom Baal bis zu den Buckower Elegien, dieser Brecht ist nicht totzukriegen und heute noch so aktuell wie eh und je: „Und über uns im schönen Sommerhimmel/ War eine Wolke, die ich lange sah/ Sie war sehr weiß und ungeheuer oben/ Und als ich aufsah, war sie nimmer da.“ So habe auch ich dem Genius seiner Poesie, die selbst die Verächter des Dichters zu Bewunderung hinreißt, am Ende meinen Tribut gezollt und am Grab des armen B.B. auf dem Dorotheenstädter Friedhof eine Zigarre niedergelegt.

Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bde. 1 bis 6, 11, 12, 16, 17. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Aufbau-Verlag Berlin Weimar und Suhrkamp-Verlag Frankfurt am Main. Die Bände (gebunden) kosten zwischen 64 und 72 Mark (Subskriptionsmöglichkeit).

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