■ NOCH 3298 TAGE BIS ZUM JAHR 2000: Unmoralische Musik
Seit es die Rockmusik gibt, wird auf ihr herumgehackt. Kürzlich behauptete Springers 'Hör Zu‘ sogar in einer fetten Überschrift „Rockmusik macht kriminell“. Die Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik machen sich auch so ihre Gedanken. Sie gaben zum Beispiel eine Studie in Auftrag, die prüfen sollte, ob Heavy- Metal-Videoclips die deutsche Jugend gefährden könnten. Die Prüfer kamen zu einem überraschenden Urteil. Heavy-Metal-Rockmusik verursacht „keine direkte Gefährdung“ von Jugendlichen. Daher sei auch „kein Handlungsbedarf im Sinne des Jugendschutzes“ gegeben.
Die Forscher hatten 520 Berliner Schülerinnen und Schüler ausgehorcht und kamen zu dem Ergebnis, daß die Kids, die Heavy Metal lieben, eh schon so bescheuert seien, daß es da nichts mehr zu schützen gäbe. Gegen eine Gefährdung der Fans spreche die Tatsache, daß lediglich zehn Prozent von ihnen die Texte überhaupt verstehen würden. Die Rock-Clips fänden deshalb in den unteren sozialen Schichten die meisten Anhänger, da sie häufig deren Lebenswelt und Verhaltensformen darstellten. Außerdem seien die Gewaltdarstellungen in den Filmchen zumeist Dokumentarmaterial, wie es sich auch in den abendlichen Fernsehnachrichten finde.
Kaum haben die Jugendschützer dem Heavy-Metal-Rock ihren Segen erteilt, kommt schon eine neue musikalische Bedrohung auf uns zu. Die Operette, bisher als völlig harmlos und spießbürgerlich verkannt, ist ganz offensichtlich ein Sumpf der Unmoral. Ein mutiger Schweizer ergriff nun Gegenmaßnahmen. Der gute Mann hatte sich im Genfer Stadttheater von der Operette Pariser Leben des französischen Komponisten Jacques Offenbach unterhalten lassen wollen, erlitt jedoch während der Vorstellung einen schweren Schock. Wegen unzüchtiger Darbietungen reichte er Klage ein. Außerdem habe er wegen eines im Stück abgegebenen Schusses eine Verletzung am Trommelfell erlitten, erklärte er der Polizei. Zwei leichtbekleidete Frauen, eine von ihnen hatte auch den Schuß abgegeben, hatten dem Zuschauer den Atem stocken lassen. Der Manager des Theaters, Hugues Gall, verteidigte die Aufführung und erklärte, sie sei auf keinen Fall obszön. In seiner zehnjährigen Tätigkeit sei es noch nie zu einer solchen Reaktion gekommen. Das Stück hatte jedoch bereits Proteste von Tierschützern ausgelöst, die sich über den Auftritt zweier unschuldiger Hühner und eines Kaninchens auf der Bühne schockiert zeigten. Karl Wegmann
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