: Das war 1991 — ein Jahr großer Unruhe ...
■ Ein taz-Rückblick auf die historischsten Tage des Jahres, als die große Koalition platzte und Berlin zur Drehscheibe zwischen Ost und West wurde
1. März: Nach wochenlangen Verhandlungen kommt es schließlich doch noch zustande: das schwarz- rote Wunderbündnis, wie es im ersten Überschwang der Gefühle voreilig genannt wird. Die Verhandlungen waren erheblich durch den Umstand belastet, daß der designierte Regiermeister Eberhard Diepgen mit dem Gedanken spielte, aus der CDU auszutreten, weil Parteifreund Helmut in Bonn ihm partout kein Geld mehr für die Stadt genehmigen wollte. Durch ein Joint-venture mit Sony wird jedoch fürs erste der drohende Bankrott abgewendet. Gegen Werbeeinnahmen in Höhe von 12 Milliarden Yen wird die Stadt für die Zeit der auf 1994 vorgezogenen Olympischen Spiele in Sony-City umbenannt.
14. März: Kurz nachdem die Arbeiten zur Entfernung der Busspuren auf dem Kurfürstendamm begonnen haben, formiert sich eine erste Protestdemonstration gegen das, so BVG- Direktor Lorenzen, »schwarz-rote Chaos«. Unter dem Schlachtruf »Ick gloobe, ick spinne« marschieren etwa 500 Taxifahrer über den Ku'damm, gefolgt von zwei AL-Bezirkspolitikern sowie 80 Busspurbetreuern, die jetzt von der Entlassung bedroht sind. Der Regierende Diepgen und Verkehrssenator Edzard Reuter (SPD), die die aufgebrachte Menge besänftigen wollen, werden von einem betrunkenen Busfahrer fast überfahren. Diepgen: »Das war ein gezielter Anschlag auf die ADAC-Satzung. Gott sei Dank standen wir neben der Spur.«
20. März: Nach weiteren Ausschreitungen randalierender Busfahrer beschließt der Senat ein Verbot des Busverkehrs in einem Umkreis von zehn Kilometern rund um das Rathaus Schöneberg und das Rote Rathaus. Die »Puhdys« unterbrechen ihre legendäre USA-Tournee und geben im Betriebshof Ruhleben ein Solidaritätskonzert vor 500.000 Umweltkartenbesitzern.
27. März: Die Busfahrerkrawalle eskalieren. Nach der Inhaftierung von 45 Taxifahrern und 12 Doppeldeckerkapitänen ruft der Personalrat der BVG zum bewaffneten Widerstand auf. Daraufhin läßt der Senat die BVG-Zentrale in der Potsdamer Straße polizeilich räumen. Es gibt 170 Verletzte. Drei Doppeldecker brennen völlig aus, mehrere Schaffner beklagen sich über abgerissene Uniformknöpfe. Nach der Wiederaufführung des BVG-Musicals Linie 1 in der Volksbühne am Dr.-Hanns- Martin-Schleyer-Platz kommt es zu spontanen Solidarisierungen der drei Zuschauer und des 115köpfigen Ensembles mit den »Kollegen aus Schacht und Schicht«.
1. April: Das Ausland blickt entsetzt auf die Eskalation der Gewalt in Berlin. In Bonn beschließt der Bundestag eine Resolution, wonach Berlin der Titel »Hauptstadt« auf alle Zeit aberkannt wird.
7. April: Der bislang eher unglücklich agierende Frauensenator Dieter Heckelmann wird dreiundzwanzig Tage nach seiner Entführung durch ein Kommando von zehn Marzahner Hausfrauen unversehrt von Feuerwehrleuten aus dem Brutkasten einer stillgelegten Ostberliner Poliklinik geborgen. Einen Tag zuvor hatte die konservativ-liberale Bundesregierung beschlossen, den Paragraphen 218 auch auf das Gebiet der ehemaligen DDR auszudehnen. Die Täterinnen hatten Heckelmann in einem Bekennerschreiben bezichtigt, sich in Bonn nie für die Belange der Frauen eingesetzt zu haben. Mutter Heckelmann vor der Presse: »Zu Hause ist er immer ganz nett!«
10. April: Mit lautem Knall platzt die soeben geschmiedete große Koalition, als durch eine taz-Enthüllung herauskommt, daß auch das Diepgen für die Stasi — Deckname »Kraut« — gearbeitet hatte. Unter Tränen verspricht der Regierende Bürgermeister zurückzutreten, und die Ostfraktion der CDU nutzt die Gelegenheit, ihren Favoriten Fritz Niedergesäß als Nachfolger zu pushen.
Gleichzeitig kommt es bei einem taz-Forum zu einem Eklat. Moderator Max Thomas Mehr hat auch Innensenator Heinrich Lummer zu einer Diskussion über Das Wollen und Werden in der Hauptstadt eingeladen. Als einer der taz-RedakteurInnen aus einem mitgebrachten Dossier zum Fall Diepgen zitieren will, kommt ihm Lummer zuvor: Vor den Augen des staunenden Publikums ißt er die Akte einfach auf. Dies sei praktischer Datenschutz, erklärt er noch schmatzend, damit sei eine Sauerei aus der Welt geschafft, ein schmutziges Komplott gegen seinen Freund Diepgen, die Unterlagen seien doch alle gefälscht. Auf derselben Veranstaltung wird Lummer von einer jungen Frau zur Rede gestellt, die sich als seine frühere Geliebte Susanne von der Stasi ausgibt. Nach dem Aufschrei »Heinrich, mit graut vor dir« wird die echauffierte Frau aus dem Saal geführt.
20. April: Die politische Krise ist perfekt. Die SPD will auf keinen Fall mehr »mit alten Stasi-Agenten die Stadt regieren«, auch die FDP spielt den Saubermann, bis Dieter Kunzelmann vorschlägt, Lothar de Maizière (CDU), Ibrahim Böhme (SPD), Axel Viehwegger (FDP) und Christian Lochte (CDU) sollten gemeinsam in einer ganz großen Geheimdienstkoalition die Stadt regieren, den Regierungssprecher soll der 'Spiegel‘ stellen.
5. Mai: In dieser Situation bietet sich die PDS (Partei der Sandmännchen) als Kraft der politischen Erneuerung an und will die Stadt mit Hilfe einer konstitutionellen Monarchie aus der Krise führen. Rio Reiser meldet Ansprüche auf den Thron an. Inzwischen ist die Berlinförderung vollends gestrichen, Karin Tietze-Ludwig wird Finanzsenatorin.
1. Juni: Klaus-Rüdiger Landowsky (CDU) wird Rundfunkbeauftragter der Stadt und setzt umgehend das Werbeverbot im öffentlich-rechtlichen Rundfunk um. SFB2 wird zur 24stündigen Schulfunkschiene. Alle Ex-DDR-Journalisten werden in der Fahrbereitschaft abgewickelt.
17. Juni: Neuwahlen. Alle verzweifelten Versuche von seiten der SPD, das Wahlrecht im Westen so zu manipulieren, daß jede CDU-Stimme nur als eine halbe zählt, scheitern letztlich an Verfassungsklagen der PDS und des Bündnisses 90. Die Spekulationen über den Ausgang des Wahlergebnisses überschlagen sich, die BerlinerInnen zeigen sich jedoch so unberechenbar wie eh und je. Sie bleiben am Wahltag lieber zu Hause oder gehen zum Picknick. Bei einer Wahlbeteiligung von 23 Prozent erhält keine der Parteien eine regierungsfähige Mehrheit.
1. Juli: Um langwierige Verhandlungen diesmal gleich zu umgehen, beschließen CDU, SPD und FDP einen Vereinigungsparteitag, um die Stadt nicht italienischen Verhältnissen auszuliefern. Das Symbol der neu gegründeten »Schicksten Einheitspartei aus deutschen Landen« (SEdL) sind drei sich waschende Hände. In einem zweimonatigen Rotationssystem werden die Regierungsämter verteilt, so daß sich sämtliche Spekulationen über Anwärter auf bestimmte Posten diesmal als langfristig richtig erweisen.
1. Oktober: Nach einem goldenen Herbsttag heißt es abends bei Fackelschein und Trommelrühren erstmals: »Wir beten an die Macht der Liebe.« Premiere für die Vereidigung von Bundeswehrsoldaten in der ehemals entmilitarisierten Stadt. Die neugebildete west-östlich quotierte Leibstandarte Alfred Dregger ist in voller Stärke und vollem Wichs angetreten. Bundesverteidigungsminister Stoltenberg (CDU), immer noch im Amt, wird bei der Feierlichkeit im Olympiastadion von einer 125-Gramm-Packung Heringsalat aus Nato-Beständen schwer am Kopf getroffen. Er bricht bewußtlos zusammen, denn die Haltbarkeit der roten Mischung war um Wochen überschritten. Nach diesem Auftakt kommt es zu weiteren Ausschreitungen. Standortkommandant von Uslar-Gleichen und der Chef des Bundeswehrkommandos Ost, Schönbohm, gehen in einem Regen von Fischtunke und Makrelenköpfen unter. Mit dem Kampfschrei »Stricklieseln zu Flugscheinen« jagen frisch zum Arbeitsdienst rekrutierte Frauen die Jungsoldaten vom Rasen. Stoltenberg hatte angekündigt, die 15.000 Wehrflüchtlinge direkt an die Golffront zu entsenden.
3. Oktober: Der russische Panzergeneral Thomas Gottschalkow ruft unter dem Motto »Retten daß« alle aufrichtigen Russen zu der Aktion »Pommes, Hilfe für Proporzk« zur Stützung der Demokratie in Berlin auf. Spontan schließt sich die ruhmreiche sogenannte »Liebeskrankendivision« an, welch sich allerdings an den Jadebusen verfährt.
17. Oktober: Auch die Berlinhilfe wurde inzwischen gestrichen. Aufgrund der dadurch entstandenen prekären Versorgungslage der Stadt fordert die 'Bild‘-Zeitung die Russen auf, die Carepakete zurückzubringen — was diese wiederum als persönliche Einladung mißverstehen. Die Freiwillige Polizeireserve wird wieder eingerichtet und sofort an die Oder-Neiße-Grenze verlegt.
9. November: Das Berliner Vereinsregister verzeichnet inzwischen 37 eingetragene gemeinnützige Vereine für den Wiederaufbau der Mauer. Schon seit Wochen kursieren Flugblätter mit Passierscheinen zum Ausschneiden. Doch heute werden aus Worten Taten. An allen Ecken und Enden des Stadtgebiets und im Umland bilden sich spontan, unabgesprochen und unorganisiert Mauerbaukollektive. Um 14 Uhr stehen auf der Steglitzer Schloßstraße bereits 34 Mauerabschnitte, auf eine Länge von 2 Kilometern verteilt. Um 18.34 Uhr Ortszeit wird der dritte Mauerring um Berlin durch einen symbolischen Mörtelwurf des Königs Wusterhausener Bezirksbürgermeisters Werner Kolhoff geschlossen.
10. November: Auch aus Ulm, Kiel, Lüneburg, Cottbus und Saarlouis werden Mauerbauten gemeldet. Fünf Großstädte in den Altbundesländern haben sich heute den Namen Karl-Marx-Stadt beigestellt, darunter Stuttgart, Düsseldorf und — der Einfachheit halber — Karlsruhe. Nur die oberpfälzische Thurn-und-Taxis-Stadt Regensburg ist ausgeschert. Sie nennt sich jetzt Wilhelm- Pieck-Stadt Johannesburg. taz-Berlin
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