: Die Russen auf dem Kurfüstendamm
■ Das russische Berlin in den zwanziger Jahren/ Damals lebten rund 300.000 sowjetische Emigranten in der Stadt
Berlin. Wie schon in den zwanziger Jahren, so könnte Berlin auch heute wieder für Tausende von Russen das Tor zum Westen werden. In diesem Frühjahr wird in der Sowjetunion das Reisegesetz verabschiedet, und es lehrt jetzt schon den Westen Angst und Schrecken. Denn das neue Recht — das befürchten zumindest die Politiker — könnten Millionen dazu benutzen, der Sowjetunion auf Dauer den Rücken zu kehren. Die Schätzungen der Anzahl der Ausreisewilligen reichen von drei bis zu vierzig Millionen — letztere Zahl stammt von Wladimir Grecik von der UN- Flüchtlingsorganisation. Schon überlegen die Politiker Notstandspläne und die Einrichtung von »Massenlagern«. Bayern fordert die Verschärfung des Asylrechts und einen Krisenstab und Innenminister Schäuble die »gezielte Visa-Verweigerung«. Doch all das wird den Ausreisewillen der Menschen nicht bremsen können, und vor allem Berlin könnte zu einem riesigen Verschiebebahnhof in alle EG-Staaten werden. So ähnlich, wie es in den zwanziger Jahren war. Heute erinnert sich kaum jemand mehr daran, daß um 1923 stolze 300.000 Russen in Berlin lebten.
Die letzten Zeugen
Für Jurik Goldin sollte Berlin 1921 eigentlich nur eine Zwischenstation nach Paris werden. Aber er ist, wie so viele, hängen geblieben. Jetzt gehört er zu den letzten Zeugen des russischen Berlins vor siebzig Jahren, Zeuge einer hektischen Zeit, die nur wenige Jahre anhielt.
Jeden Morgen Punkt neun Uhrnimmt Jurik Goldin den Pudel Boris an die Leine. Im Charlottenburger Lietzenseepark ziehen die beiden ihre Runde, gelegentlich unterbrochen durch Schwätzchen mit anderen Hundefreunden. Jurik, in Moskau geboren, ist 88 Jahre alt, einer, dem alle Freunde »weggestorben sind«. Er gehört zu den letzten noch lebenden Emigranten, die nach der Oktoberrevolution vor den Bolschewiken nach Berlin geflohen sind. Eigentlich wollte er damals weiter nach Paris, denn »dort lebte die Boheme, und ich wollte Tänzer werden«. Das wurde er dann in Berlin, viele Jahre lang trat er in einem Varieté in der Budapester Straße auf. Deutsch hat er erst in den vierziger Jahren mit Mühe gelernt, noch heute fehlen im oft die Worte, und der Akzent ist russisch geblieben. Im Berlin der zwanziger Jahre, sagt er, sprach man »russisch oder jiddisch, aber doch nicht deutsch«.
Die Berliner Russen waren Flüchtlinge der Revolution, mit und ohne zaristischem Gold in der Tasche. Darunter Offiziere und Soldaten des »Weißen Korps«, die hier auf bessere Zeiten warteten und Intrigen gegen die Sowjetunion schmiedeten. Es gab die aus Deutschland entlassenen Kriegsgefangenen, die nicht mehr nach Rußland wollten, weil dort der Hunger regierte und der Bürgerkrieg ihnen die Heimat genommen hatte. Neben diesen Verlorenen hielten sich in Berlin Tausende von Touristen mit abgelaufenen oder von Schiebern gefälschten Pässen auf, die Schmuggelwaren verscherbelten, und Abertausende von hängengebliebenen russisch-jüdischen Emigranten, die mit Transitpapieren in der Tasche auf ein Ausreisevisum in die USA warteten. Und dann waren da noch die sozialrevolutionären Intellektuellen, die die Diktatur des Proletariats lieber im Romanischen Café als im Smolny von Petersburg diskutierten. Also ein buntes und gemischtes Volk, untereinander über die »russische Frage« oft tödlich zerstritten, aber in Kreisen, Zirkeln und exklusiven Clubs fest miteinander verbunden. Es waren Menschen, die sich zwischen Exil und Rückkehr zu entscheiden hatten. »Nie zuvor und nie danach«, beginnt Fritz Mierau sein Buch über die Russen in Berlin, habe »eine Stadt außerhalb Rußlands für die russische Selbsterkenntnis eine so große Rolle gespielt wie das Berlin der zwanziger Jahre«.
Vor allem die Künstler schufen sich ihr Milieu. Da gab es »Kubofuturistische« Bildhauer, »suprematistische« Maler, »atonale« Musiker, »mystische« Schriftsteller, »dekadente« Dichter und Philosophen der »neuen Sachlichkeit«. Ilja Ehrenburg schrieb und hielt Hof in der »Prager Diele« nahe dem Prager Platz, andere zog es in das Kabarett »Der blaue Vogel« in der Goltzstraße. Gestritten wurde vor allem ab 1921 im »Haus der Künste«, einer Einrichtung an wechselnden Orten nach Petersburger Vorbild. 58 »ordentliche« und 83 »assozierte« Mitglieder, aufgeteilt in die Sektionen Literatur, bildende Kunst und Musik, veranstalteten hier ihre Soireen. Alexej Tolstoi, Remizow, Pasternak, Bely und andere berühmte Schriftsteller nahmen daran teil, die »Berliner Phase« wurde später zu einem Gattungsbegriff in der russischen Literaturgeschichte. Als Protest gegen eine zu starke Politisierung des »Hauses der Künste« wurde 1922 der »Schriftstellerklub« gegründet, auch dieser nach russischem, jetzt Moskauer Vorbild. Berlin war eine Stadt, die die Russen zwar ständig als Provinz verteufelten — »Berlin wollte immer eine fashionable europäische Metropole vortäuschen« (Nikitin) — aber in der sie trotzdem blieben. Sie war ihnen heimisch, weil andere Russen dort lebten. »In Berlin weht ein russischer Geist«, soll schon Puschkin gesagt haben, bereits am Bahnhof Zoo »riecht es nach Rußland«.
Zentrum Gedächtniskirche
Auch Jurik Goldin stand eines Tages Ende 1921 mit einem Pappkoffer am Bahnhof Zoo. In der Tasche hatte er einige Adressen der »Bekannten von Bekannten«, Emigranten, die wie er über Riga aus Rußland geflüchtet waren. Devisen hatte er nicht, »aber vor der Währungsreform«, erinnert er sich, »war das Leben sehr billig«. Zudem konnten »aufgeweckte Burschen« immer ein »Geschäftchen« auf dem russischen Schwarzmarkt am Wittenbergplatz abschließen. Goldin fand einen Unterschlupf zuerst im Kaschemmenmilieu hinter dem Alexanderplatz, dann in der Nollendorfstraße, später, als er zu Geld gekommen war, in der gutbürgerlichen Schlüter- und Kantstraße. Dort lebt er heute immer noch, jetzt als Russe unter Deutschen. Von seinem »russischen Berlin« ist nicht mehr übrig geblieben als ein winziges Lokal in der Neuen Kantstraße.
Die Stadt in der Stadt hieß damals »Petersburg«, nur von den Einheimischen »Charlottengrad« genannt, das Zentrum war die Gedächtniskirche. Dort hielt der Bus Nummer 8. Vom Alexanderplatz kommend und nach Wilmersdorf fahrend, rief der Schaffner »Rußland«. Wie Finger an einer Hand streckten sich von der Gedächtniskirche, die die Russen »Admiralskirche« nannten, die russischen Straßen ins deutsche Berlin. In den Westen die »Moskauer Allee«, die Kantstraße und der untere Kurfüstendamm. In den Osten die Tauentzien, pardon, die »Kusnezki Most« bis zum Wittenbergplatz, dazwischen die Joachimsthaler mit dem nahegelegenen Prager Platz und die Kurfürstenstraße. Hier lebten die Russen fast ein Jahrzehnt, ohne je deutsch sprechen zu müssen.
Das russische Berlin hatte seine eigene Binnenstruktur, seinen eigenen sozialen Organismus. Auch die lästigsten aller Gänge, die Wege zu den deutschen Behörden, wurden über die »Russische Delegation« abgewickelt, ein halboffizielles Konsulat. Es gab mehr als 20 Hilfsorganisationen und Sozialvereine, die über Fonds zur Unterstützung notleidender Mitglieder verfügten. Es gab sogar eine »Vereinigung der russischen Pagen in Berlin«, die sich in der Kurfürstenstraße 18 traf. Es gab Hunderte von Pensionen, Hotels, Gaststätten, Wäschereien und Friseure jeder Preisklasse. Es wurden mehr russische Tageszeitungen unterschiedlicher politischer Couleur gedruckt als heute deutsche, und es existierten 86 russische Verlage. Wer ein Manuskript in der Tasche hatte, konnte sicher sein, es bald in einer der vielen russischen Buchhandlungen ausgelegt zu sehen. Die größte, am Nollendorfplatz, existierte bis Sommer 1941. Vergnügen konnten sich die Emigranten in vier ständigen russischen Theatern oder in ungezählten Kabaretts, und für die Weiterbildung sorgte eine eigene Volkshochschule und ein Russisch-Wissenschaftliches Institut.
Die Deutschen: Idioten und Stümper
Das russische Berlin hielt die Deutschen auf Distanz. In den Zeitungen war von der »Vorherrschaft« der Russen in Berlin die Rede, denn das Wort »Multikultur« war noch nicht erfunden. »Die Deutschen sind Idioten, Stümper, Grobiane, das bestätigt einem jeder russische Berliner«, schrieb der »Serapionsbruder« Lew Lunz 1923 nach Petersburg. Ihr Wortschatz sei ärmlich, ihre Küche ungenießbar, ihre Häuser graue Mietskasernen und Zarskoe Selo viel schöner als Potsdam. Von allen Gruppen, die er in Berlin antraf, »amüsierten« ihn am meisten die »klassischen russischen Intellektuellen«. Sie verzehrten sich in ihrer Sehnsucht nach ihrer Heimat, aber sie kehrten nicht zurück, weil sie feige seien, so beschrieb er ihr Dilemma. Sie haßten die Deutschen, die seien ihnen »psychisch zuwider« — freilich verständlich, weil die einzigen Vertreter der deutschen Nation, mit denen sie in Berührung kämen, die Zimmerwirtinnen seien.
In den Erinnerungen der Schriftsteller, die eine Zeitlang hier lebten, erscheint Berlin häufig als eine fremde, monströse Stadt, als eine Stätte der Einsamkeit. Andrej Belyjs Erinnerungen an das Berlin zwischen 1921 und 1923 trägt den programmatischen Titel »Im Reich der Schatten«, und beschrieben wird die Stadt als eine »Wohnstätte des Gespensterreiches«.
Das russische Berlin endete fast genauso abrupt, wie es begonnen hatte. Die Teuerung nach der Währungsreform Anfang 1924 trieb die Emigranten zu Zehntausenden vom Übergangsexil Berlin ins endgültige Exil, nach Paris, England oder, trotz rabiater Einwanderungsbeschränkungen für Osteuropäer, in die USA. Dort gibt es heute noch russische Enklaven. Fast alle berühmten Künstler und Literaten kehrten jedoch nach der Verkündigung der Neuen Ökonomischen Politik in der Sowjetunion zurück in ihre Heimat. Weitere Zehntausende verließen Berlin während der großen Depression Ende der zwanziger Jahre.
Jurik Goldin aber blieb, er hatte sich in einen lettischen Saxophonisten verliebt und fürchtete daheim Repressionen. Er hätte seine Neigungen unterdrückt, wenn er gewußt hätte, daß ihm die Nazis später den rosa Winkel anheften würden. Aber darüber will er nie mehr sprechen. Auch nicht, wie traurig es war, das russische Berlin erlöschen zu sehen. Die Häuser und Gebäude ihres Viertels wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach abgerissen. Übrig geblieben ist heute nur noch eine kleine russisch-orthodoxe Kathedrale am Hohenzollerndamm, ein Gemeindehaus in der Nachodstraße und ein Friedhof in der Wittestraße in Tegel. Dort will Jurik Goldin begraben werden. Anita Kugler
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