: Ungehinderte Flucht aus Albanien
Kosovo und Nordgriechenland sind Zielregionen/ Mißtrauen gegenüber der Reformpolitik Alias ■ Aus Belgrad Roland Hofwiler
Allen Demokratisierungsschritten zum Trotz suchen in den letzten Tagen jeweils Tausende albanische Staatsbürger den Weg zur Freiheit über die grüne Grenze nach Griechenland und Jugoslawien. Bis zu 500 Personen überquerten täglich die griechisch-albanische Grenze, wie das Flüchtlingshochkommissariat in Athen mitteilte. Zur Silvesternacht sollen es dann 2.500 gewesen sein. Der griechische Regierungssprecher hat den griechischsprechenden Albanern bereits gut zugeredet, in ihrer Heimat zu bleiben und an dem „unausweichlichen Demokratisierungsprozeß“ teilzunehmen. Er dementierte, daß an eine Schließung der Grenzen gedacht sei, erklärte aber gleichzeitig, daß eine anhaltende Flüchtlingswelle aus Albanien für Griechenland große Probleme aufwerfe.
Etwas niedrigere Flüchtlingszahlen werden aus Belgrad gemeldet. Flüchtlinge berichteten, daß der Schießbefehl für die albanischen Grenztruppen zwar noch nicht ganz aufgehoben, jedoch soweit eingeschränkt worden sei, daß die illegale Grenzüberschreitung „relativ“ gefahrlos vor sich gehe.
Im Norden Griechenlands leben hunderttausend Albaner, in Jugoslawien zwei Millionen. Die meisten der grünen Grenzgänger scheinen sich sofort zu Verwandten in diesen Minderheitengebieten durchzuschlagen und in den albanischen Dörfern des Kosovo oder im griechischen Epeiros-Gebirge Unterschlupf zu finden.
Als im Juli nach der Besetzung westlicher Botschaften 5.000 unzufriedene Albaner aus Tirana ausgeflogen wurden, blieb manch ein Familienmitglied, das die Flucht in eine Botschaft nicht mehr geschafft hatte, in der alten Heimat zurück. Gerade diese Menschen werden seitdem von den Behörden gegängelt und vereinzelt sogar inhaftiert, so wenigstens das Flüchtlingshochkommissariat. Denn obwohl die Regierung schon im Sommer ankündigte, jeder Staatsbürger werde bald einen eigenen Reisepaß erhalten, sind dies bisher nur leere Versprechungen geblieben. Viele entschlossen sich auf eigene Faust zur Flucht.
Auch anderen Demokratisierungsschritten sei nicht zu trauen, war von Geflüchteten in Interviews zu hören. Manche von ihnen glauben zwar, Ramiz Alia, Staats- und Parteichef in einer Person, meine es ernst mit seinen Reformen und die für den 10. Februar ausgerufenen demokratischen Wahlen könnten eine historische Wende mit sich bringen, doch es drohe auch die Gefahr, daß sich der jahrzehntelang angestaute Haß der Bevölkerung gegenüber den Stalinisten in blutigen Ausschreitungen entladen könnte. Nirgends habe ein Regime im realexistierenden Sozialismus brutaler geherrscht als in Tirana.
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