: Prozeßlawine ohne Ende in Mutlangen
Die letzten Raketen sind abgezogen/ Ein Ende der juristischen Verfahren gegen die Blockierer ist nicht absehbar/ Friedenskämpfer lehnen Amnestie ab und fordern Rehabilitierung/ Immer mehr gehen aus Überzeugung in den Knast ■ Aus Mutlangen Erwin Single
Der Wind treibt über die rauhe Alb. Im Depot des 56. Field Artillerie Commando dröhnen seit Tagen die Motoren der Transporter. Mehrere Konvois verlassen das mit doppeltem Stacheldraht umzäunte und nachts ausgeleuchtete Lager, schwer beladen mit Lafetten und Raketenteilen. Am 20.November war es soweit: Die letzten neun Pershing-II-Raketen haben das Mutlangener Militärcamp in Richtung Ramstein verlassen, von wo sie in die USA zurückverfrachtet werden. Spätestens bis zum Sommer dieses Jahres müssen sämtliche landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen zur Verschrottung abtransportiert werden, so schreibt es das INF-Abkommen vor.
Der Raketenstandort auf der schwäbischen Alb, vor dessen Toren die Friedensbewegung mit unzähligen Blockadeaktionen ihren gewaltfreien Kampf gegen die atomare Bedrohung symbolträchtig demonstrierte, ist nun atomwaffenfrei. Doch in den Gerichtsstuben in Schwäbisch Gmünd und Ellwangen werden die Friedenskämpfer weiter zu Kriminellen abgestempelt — denn wer sich vor die Räder der Kriegsgeräte setzt, erfüllt für Staat und Justiz noch immer den Straftatbestand der „Nötigung“. Ein Ende der Prozeßlawine ist nicht in Sicht.
„Es ist schon merkwürdig, die Pershings abziehen zu sehen und am nächsten Tag wieder zu einem Prozeß zu gehen“, beschreibt Jutta von Ochsenstein ihre getrübte Freude an der Raketenverschrottung. Sie lebt im Mutlangener Carl-Cabat-Haus, das die Friedensbewegung vor zwei Jahren erworben hat und wo alle Informationen über Blockade-Prozesse zusammengetragen werden. Zehntausende Bürgerrechtler und Rüstungsgegner haben an den Sitzdemonstrationen in Mutlangen teilgenommen, darunter Richter, Anwälte, Pfarrer, Senioren, ehemaligen KZ-Häftlinge und Prominente wie Heinrich Böll, Robert Jungk oder Oskar Lafontaine.
Seit Beginn der Blockade-Kampagne „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“ im Jahre 1984 ist auch das für Mutlangen zuständige Amtsgericht in Schwäbisch-Gmünd vollauf beschäftigt. Wie am Fließband erließ die Lokaljustiz Strafbefehle. Kaum ein Tag verging, ohne daß nicht ein Widerspruchs-Verfahren lief; 2.500 dürften die Amtsrichter bereits durchgezogen haben. Zu Freisprüchen kam es nur gelegentlich. Die dicksten Brocken stehen noch aus: So muß sich Anfang Januar der ehemalige Tübinger Grünen- Stadtrat Volker Nick wegen 10 Blockaden verantworten, für die er einen Strafbefehl von 300 Tagessätzen erhalten hatte. Für das Verfahren gegen den Bürgerrechtler Klaus Vack, der zahlreiche Aktionen organisiert und selbst an über 100 Blockaden gegen Raketen und Giftgas teilgenommen hat, steht noch nicht einmal der Verhandlungstermin fest; der Strafbefehl über 200 Tagessätze für neun Mutlangen-Blockaden ist bereits zwei Jahre alt. Am Landgericht in Ellwangen häufen sich die Berufungsverfahren; der zuständige Richter ist damit an zwei Verhandlungstagen in der Woche beschäftigt — voraussichtlich noch drei Jahre lang. Rund 1.000 Blockierer, wird im Cabat-Haus geschätzt, sind in die Berufung gegangen.
Auch Wegtragen-Lassen wird verfolgt
Doch nicht nur der umstrittene Nötigungs-Paragraph, sondern auch die Polizeieinsätze brachte die Mutlangen-Blockierer in Konflikt mit dem Gesetz. Wen die Polizei in Baden- Württemberg wegträgt, dem stellt sie einen Kostenbescheid zu. Schließlich, so wurde diese Sonderregelung in der Polizeiabteilung des Stuttgarter Innenministeriums verteidigt, könne aus Gleichbehandlungsgründen nicht unterschieden werden, ob ein Auto abgeschleppt oder eine Blockade aufgelöst werde. Das bekam vor Weihnachten auch Sigrid Birrenbach zu spüren: Weil die Hebammenschülerin die Polizeigebühren von 537 DM für sechsfaches Wegtragen nicht zahlen konnte und einen Offenbarungseid verweigerte, mußte sie eine „Erzwingungshaft“ im Schwäbisch-Gmünder Frauengefängnis „Gotteszell“ antreten. Sie ist nicht die erste Blockiererin, die mit einem Offenbarungseid malträtiert wurde. Wer zu Geldstrafen verurteilt wird und nicht zahlt, muß seine Zahlungsunfähigkeit nachweisen. Wer den Eid verweigert, dem droht der Kerker.
Derweil wandern immer mehr der Rüstungsgegner in den Knast, um die hohen Geldstrafen abzusitzen, die sie nicht bezahlen können oder wollen. An die 200 Menschen waren es bislang bundesweit — aus Überzeugung, wie die Mutlanger Friedensaktivisten betonen. So ging Volker Nick im Sommer für drei Monante hinter Gitter, um einen ersten Teil seiner insgesamt dreijährigen Ersatz-Freiheitsstrafe abzutragen. Seine Mutlanger Mitstreiter Holger Jänicke und Christoph Then waren in der Heidenheimer Vollzugsanstalt eingelocht, um ihre neun- bzw. einmonatige Strafe abzubüßen. Nicht wenige wollen mit ihrem Gang ins Gefängnis deutlich machen, wie anachronistisch sich die Rechtsprechung angesichts weltpolitischer Veränderungen ist: Die Gerichte schlagen noch zu, nachdem Reagan und Gorbatschow die Verschrottung der monströsen Raketen längst beschlossen, die Feindbilder sich aufgelöst haben und die tödlichen Flugkörper samt Abschußrampen verschwunden sind. Jänicke und Then halten es für einen „politischen Skandal, daß weiterhin Menschen ins Gefängnis gesperrt werden, weil sie sich der Vorbereitung des nuklearen Massenmords gewaltfrei in den Weg gesetzt haben“. Auch häuft sich die Kritik an einem Rechtsempfinden, das die Teilnehmer ausgesprochen gewaltfreier Friedensaktionen hart bestraft, während skrupellose Waffenschieber oft ungeschoren bleiben. Attackiert wird auch die Doppelmoral einer sich unpolitisch gebenden Justiz, die für Verkehrsblockaden der Rheinhausener Stahlarbeiter und Brummi-Sperren für freie Fahrt über die Alpenpässe scheinbar weit mehr Verständnis aufbringt und strafrechtlich nicht eingreift.
Nach der deutschen Vereinigung gibt Bonn sich nun großmütig und diskutiert eine Amnestie für die Friedenskämpfer — zusammen mit ehemaligen Stasi-Spitzeln. Einen entsprechenden Gesetzentwurf des saarländischen Justizministers Walter (SPD) hatte die kurzlebige sozialdemokratische Bundesratsmehrheit im Oktober auf den Weg gebracht. In der Friedensbewegung stößt die Schlußstrich-Amnestie auf wenig Gegenliebe: Damit werde lediglich die politische Strafjustiz legitimiert, nicht aber die Blockadeteilnehmer rehabilitiert, wird argumentiert. Das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ fordert stattdessen, den Nötigungs-Paragraphen 240 ganz aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Komitee-Sprecher Vack sieht in dem nach dem Krieg nur leicht entschärften Nazi-Paragraphen eine politische Waffe gegen die Friedensbewegung und andere Initiativen, die zivilen Ungehorsam üben: Blockaden werden als „Nötigung“ strafbares Unrecht, egal welches Ziel sie haben; die Teilnehmer werden mit dem Verdikt der „verwerflichen Gewaltanwendung“ diffamiert.
Die Rechtspraxis ist sehr verworren
Nach diesem Muster läuft auch das Gerichtskarussell ab: Der Nötigungs-Paragraph wuchert — angetrieben von der Rechtsauffassung im Bonner Justizministerium, nach der Blockaden Unrecht sind und bleiben, von höchstrichterlicher Instanz im Karlsruher Bundesgerichtshof (BGH) in einem umstrittenen Beschluß bestätigt und von eifrigen Staatsanwälten und sturen Richtern als Leitlinie verteidigt. Der BGH hatte 1988 entschieden, die Fernziele der Blockierer (etwa die Beseitigung der Massenvernichtungswaffen) sollten lediglich bei der Strafhöhe berücksichtigt werden — ein „juristisch spitzfindiges und rechtlich verheerendes Urteil“, wie Klaus Vack sagt. Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht (BVG) 1986 zwar die Anwendung des Nötigungs- Paragraphen auf Sitzblockaden als nicht verfassungswidrig erklärt; allerdings in einem Patturteil mit vier zu vier Stimmen.
Die Rechtspraxis ist verworren: Die meisten Richter sprechen schuldig, einige sprechen frei, höhere Instanzen kassieren die Urteile und verweisen sie zurück. Hatte das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart im Sommer noch sieben Freisprüche in dritter Instanz aufgehoben, wies es im November einen Schuldspruch zurück.
Bei den bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigenden Tatumständen dränge sich die Frage auf, ob den Pershing-Fahrern „eine zumutbare Ausweichmöglichkeit zur Verfügung gestanden“ habe. Mehr Rechtsklarheit erhoffen sich beide Seiten nun aus Karlsruhe; die BVG-Richter haben noch über die Verfassungsmäßigkeit des BGH-Urteils zu entscheiden.
Wie uneinig sich die Richter bei der strafrechtlichen Sanktionierung der Sitzdemonstranten sind, zeigte sich beim letzten Richterblockadeprozeß im September vor dem Amtsgericht in Schwäbisch-Gmünd. Der angeklagte Braunschweiger OLG- Richter Helmut Kramer hatte sich 1987 mit weiteren 19 Richterkollegen vor das Mutlanger Pershing-Depot gesetzt und die Zufahrt blockiert. Durch ihre damaligen Aktion wollten die Richter nicht nur gegen den „menschenverachtenden Wahnsinn der Atomrüstung“ protestieren, sondern auch ihre Solidarität mit den angeklagten und verurteilten Blockierern bekunden. Der mehrfach heftig kritisierte Amtsrichter Werner Offenloch, stets darum bemüht, die Angeklagten davon zu überzeugen, daß ohne die Verurteilung von Sitzblockaden der Rechtsstaat aus dem Lot gerate, fällte trotz Abwesenheit des Angeklagten sein gewohntes Urteil: 20 Tagessätze zu 70 DM.
Als „aufklärenden Protest“ bezeichnet dagegen der Verfassungsrechtler Erich Küchenhoff das Handeln der Friedenskämpfer. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Ellwangen ging der Münsteraner Rechtsprofessor hart mit der dortigen Justiz ins Gericht.
Diese habe es sich zu leicht mit dem Pinseln von Urteilen gemacht, dabei schwere Verstöße gegen das Prozeßrecht begangen und den Gesetzestext völlig verfehlt. Richter und Staatsanwälte verwehrten sich anschließend energisch gegen derartige „Diffamierungen“. Sie seien ihrem „gesetzlichen Auftrag“ nachgekommen; außerdem dürfe die strafrechtliche Verfolgung nicht davon abhängig gemacht werden, ob die Straftat in eine politische Landschaft passe oder nicht.
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