: Pffft in der Via Chiaia
■ Neu: “Das Ideal des Kaputten“ / Selbstgedachtes von Alfred Sohn-Rethel
Die kleinen Bücher müssen wir unbedingt loben. Sie sind statt beeindruckend lieber freundlich und machen, wie Snacks, dem Lesemagen keinerlei Beschwerden. Vor mir liegt eins von kaum fünfzig Seiten, das ist so gescheit und leicht, das schwimmt sogar in Milch: Alfred Sohn-Rethel: Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik.
Nämlich war Sohn-Rethel, der letztjahrs verstorbene Multi-Gelehrte, auch einmal, als junger Mann und Hungerleider, im damals billigen Italien gewesen, von 1924 bis 1927 im Großdenkers-Kaff Positano nahe Capri. Dort hauste er und schweifte und hatte Besuch von Adorno, Bloch, Benjamin und Kracauer und andere gute Einfälle. Ganz nebenher schrieb er die drei im Buche vertretenen Erzählungen, aber was heißt Erzählungen bei einem Sohn-Rethel, es ist intellektuelle Kleinkunst.
Vesuvbesteigung 1926. Geringere würgen am Naturerlebnis, der trainierte Denker aber verflüssigt es sogleich in springlebendige Rede. Wo er hintritt, tritt er nicht bloß an sich hin, sondern für uns, er ist von Berufs wegen überall der exemplarische Mensch. Also auch auf dem Vesuv, in schwefelgelber, phosphorgrüner, kupferroter oder schwarzer Lava-Nacht, einer Nacht von äußerster Unheimlichkeit, und ganz jenseits allen Lebens.Als wir uns dann aber den Leuten anschlossen und unsere Pferde und unseren Guida wiederfanden, bemerkte ich dort ein wenig Gras, auf das ich den Fuß setzte und das mir das Gefühl des organischen Wachstums wiedergab. Er liefert in allem gleich die Metapher, mit der sich der allgemeine Mensch in der Welt auffinden läßt. Dazu muß man schon mit
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den Augen denken können.
Eine Verkehrsstockung in der Via Chiaia zu Neapel. Mitten auf der Kreuzung will ein Esel seinen Karren nimmer schleppen, es kommt zu Stau und Häufung aufgeregter Menschen und genüßlichem Eklat, und am meisten Freude hat Sohn-Rethel, weil er schon wieder das allgemeine Neapel sieht, das noch halb bäuerliche Improvisorium, wo Kühe in fünften Etagen und Hühner in Behördenpapierkörben hausen und alles nicht anders als irgendwie gerade noch mal eben klappt.
Womit wir beim dritten, dem Hauptstück sind, betreffend, daß technische Vorrichtungen in Neapel grundsätzlich kaputt sind.
Dort, wo Vertrauen ausschließlich die Dinge verdienen, die man selber repariert hat, darf nur das unenträtselt Spirituelle von vorneherein funktionieren, zum Beispiel die Osrambirnen-Korona der Kirchenmadonna. Sonst herrscht Stromausfall und Bastelei in Permanenz, zum großen Vergnügen von Sohn-Rethel, dem überhaupt die Welt gut Freund ist und gern den Gefallen tut, am Ende die passende Pointe fahren zu lassen: Da kommt ein Gassenbub daher und tritt dem Esel in den Bauch, worauf es hinten lange Pffft macht, und das erlöste Tier trottet weiter. Manfred Dworschak
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