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Nach dem Sündenfall

■ Andrea Breth inszeniert am Wiener Burgtheater Kleists „Der zerbrochene Krug“

Fahles Licht im Zuschauerraum und lang anhaltende leise Orgeltöne verleihen dem Burgtheater die sakrale Stimmung einer Kathedrale. Bereits vor Beginn der Aufführung sitzt Eve in sich versunken an der Rampe. Anstelle des Vorhangs eine schwarze Fläche mit einer kreisrunden Öffnung. Dahinter eine schräggestellte Scheibe, an deren oberer Kante, in gefährlicher Höhe mit dem Rücken zum Publikum, Dorfrichter Adam sitzt.

Gisbert Jäkel schuf für Andrea Breths Ausgangskonstellation ein Bühnenbild, dessen Vollkommenheit jede Möglichkeit einer Bespielbarkeit auszuschließen schien. Und tatsächlich müssen erst die Dinge in Bewegung geraten, bis sich ein Raum fürs Spiel der Menschen eröffnet. Der Dorfrichter wird von der sich senkrecht aufstellenden Scheibe nach hinten abgeworfen; das riesige Gucklock verengt sich zuerst zur Form eines Auges und verschwindet dann, sich nach oben und unten ausdehnend, vollständig; die Scheibe, von einem blauen Flußband durchlaufen, zerfällt in zwei Teile, die nach oben schweben; an zwei Seilen befestigt, mit dem Kopf nach unten, sinkt der Dorfrichter wie in Zeitlupe durch den Raum zu Boden; von rechts dreht sich schließlich die Gerichtsstube ins Blickfeld.

Nackt wie ein Satyr und zugleich entblößt wie Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies, der mit einem Laken notdürftig seine Blößen zu verdecken sucht, taucht Traugott Buhre als Dorfrichter Adam, von hinten über eine für die Zuschauer nicht einsehbare Treppe kommend, in der Stube auf. Er ist von seinen nächtlichen Untaten bei Eve (nämlich Amtsmißbrauch, Erpressung und möglicherweise Versuch einer Vergewaltigung) ebenso schuldbeladen, wie er von seiner Flucht gezeichnet ist: verletzt am Bein und im Gesicht. Nur davon, daß er beim Sprung aus dem Fenster einen Krug zerbrochen hat — dessentwegen der ganze Fall aufgerollt werden wird — hat er kein Unrechtsbewußtsein. Buhres Richter jedenfalls ist kein schlauer, also ein naiver und zynischer Mensch zugleich, der sich selbst einzureden versteht, nichts Unrechtes getan zu haben. Vielmehr versucht er, mit Gewalt und kraft seiner richterlichen Autorität, jeden Verdacht von sich fernzuhalten — im Laufe des Prozesses, den er gewissermaßen gegen sich selbst führt, und vorerst in Gegenwart des Schreibers Licht und seiner beiden Mägde, denen er sein Aussehen zu erklären hat.

Hilke Ruthner und Julia von Sell als Mägde — bei Kleist Randfiguren — sind bei Breth beinahe ständig auf der Bühne anwesend und durch unterschiedliche Beschäftigungen in Bewegung gehalten. Je wortloser Andrea Breths Theater ist, um so spannender vermag sie die Geschichten der Figuren zu erzählen. Dort, wie in der ersten Szene des Dorfrichters mit seinen Untergebenen, wo sie die Dialoge bis zum Zerreißen in die Länge zieht, verliert die Aufführung nicht an Intensität. In den wortreichen Gerichtsszenen hingegen wird das Spiel immer wieder langatmig, unscharf. Die Schauspieler vermögen ihren Figuren dann kaum mehr als das typenübliche Profil zu verleihen. Jochen Tovote ist der bekannt finstere und verschlagene Schreiber. Wolfgang Gasser als Gerichtsrat Walter — dessen Anwesenheit zwecks Revision des Gerichts dem Dorfrichter die Möglichkeit verwehrt, die übliche Verfahrenspraxis anzuwenden — nimmt seiner Figur zwar den Nimbus, die das Vertrauen in die Justiz aufrechterhalten soll, bleibt jedoch sich selbst dermaßen verhaftet, daß man mehr an Wolfgang Gasser erinnert wird als an den Gerichtsrat. Ähnliches gilt für Kirsten Dene, die normalerweise gerade mit ihrer Wandlungsfähigkeit zu überraschen versteht. Ihre — noch mehr um den guten Ruf ihrer Tochter Eve denn um den zerbrochenen Krug besorgte — Marthe Rull ist eine geschwätzige Frau: Je mehr sie redet, um so weniger interessiert man sich für sie.

Andrea Breth scheint beim Studium von Kleists Lustspiel derart im Text versunken zu sein, daß ihr die Figuren zusehends verlorengingen. Die im klug gestalteten Programmbuch (Dramaturgie: Michael Eberth) aufgelisteten kulturgeschichtlichen Bedeutungen des Zerbrochenen Kruges auf der Bühne sichtbar zu machen, ist jedoch ein mühsames Unterfangen. Das Ergebnis ist, statt des üblichen kurzweiligen Lustspiels, ein beinahe vier Stunden währendes Exerzitium. Daß es dies wurde und kein theaterwissenschaftliches Seminar, macht die Aufführung trotz aller Einwände so bemerkenswert. Breths gewissermaßen übergenaues Lesen des Textes konnte sie immer wieder theatralisch nutzen. Ein winziges Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn Traugott Buhre zu Beginn als Nackter auch noch furzt, ist dies nicht mehr als ein Gag; wenn die Zeugin (Brigitte Tüschen spielt nicht die komische, sondern eine gefährliche Alte) gegen Ende des Verfahrens die Flucht des Dorfrichters, den sie nicht erkannt, sondern für den Teufel gehalten hat, mit den Worten schildert: „Hinter ihm erstinkt's wie Dampf von Pech“ und Adam für sich erwidert: „Verflucht, mein Unterleib“ — dann folgt der Pointe die späte Erkenntnis nach.

Dem Bekenntnis zur Langatmigkeit entsprechend wurde auch nicht die von Kleist selbst gekürzte Schlußszene gespielt, sondern die ursprüngliche Variante, die sowohl den politischen Hintergrund von Adams Untaten deutlich macht, als auch eine allzu schnelle Versöhnung zwischen Eve und ihrem Geliebten, der sich wegen ihrer angeblichen Untreue selbstgefällig von ihr abwandte, hintertreibt. Ihr ein Selbstbewußtsein gebendes „Geh, laß mich sein“ verschleppt gewissermaßen das Happy-End, das wohl weder Kleists Naturell und Kunst noch Andrea Breths Sicht der Dinge entspricht. Dieter Bandhauer

Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug. Regie: Andrea Breth; Bühne: Gisbert Jäkel. Mit Traugott Buhre, Kirsten Dene, Julia von Sell, Andrea Clausen, Tobias Langhoff. Burgtheater Wien.

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