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Gehätschelte Erpresser

■ Die Pharmaindustrie wechselt aus der Rolle des „Wohltäters“ in die des Raffke

Jetzt sind sie also plötzlich die bösen Buben, die großen Pharmakonzerne, die sich seit Jahrzehnten an Krankheit und Gesundheit, an Pillenabhängigkeit und Medikamentengläubigkeit, an ärztlicher Bequemlichkeit und bornierter Schulmedizin, an Zivilisationszipperlein und einem als vorbildlich geltenden Gesundheitssystem dumm und dämlich verdienen. Erpresser und Wegelagerer schimpft man sie, die Bayers, Scherings und Mercks, die bisher als steuerzahlende und arbeitsplatzschaffende Unternehmen gehätschelt und in die Rolle der gemeinnützigen Einrichtungen im Dienste der Volksgesundheit gerückt wurden.

Aber ein Wohlfahrtsverband war die prosperierende Pharmaindustrie noch nie. Sie ist schlicht eine stinknormale Branche, für die Krankheit eine Ware ist, mit der sich gerade in der Bundesrepublik hervorragend Profit machen läßt. Warum sollte sich diese Branche auch gefallen lassen, daß ihr per Einigungsvertrag jetzt vorgeschrieben wird, ihre Preise in der ehemaligen DDR um die Hälfte zu senken? Der Konflikt, der jetzt dem Bonner Gesundheitsministerium mitten im Haus steht, war also vorprogrammiert.

Da ist es verlogen, jetzt an die Barmherzigkeit zu appellieren oder Solidaropfer für die deutsche Einheit zu verlangen. Die wird man von der Pharmaindustrie ebensowenig einklagen können wie von den Mineralölkonzernen oder dem boomenden Einzelhandel. Das Problem, das jetzt schlaglichtartig offenkundig wird, liegt eher woanders: Seit Jahren kann die bundesdeutsche Pharmaindustrie im eigenen Land die höchsten Preise in ganz Europa kassieren. Mit dem Segen von oben werden sie von den Krankenkassen immer brav gemästet, und von unten verfuhren Ärzte und Patienten bis vor kurzem nach dem Prinzip: Je teurer ein Mittelchen, desto gesünder. Daß in Italien, England, Lateinamerika oder Spanien bundesdeutsche Pharmaprodukte von der Antibabybille bis zum Mittel gegen Zuckerkrankheit seit Jahren noch weitaus billiger zu haben sind, als sie jetzt in der Ex-DDR verkauft werden müßten, ist nicht erst seit dem 1.Januar bekannt. Auch daß die Pillenkonzerne bei diesen Billigpreisen im Ausland immer noch so viel Profit machen, daß sich der Verkauf lohnt, weiß man seit Jahren — und ließ es ungehindert geschehen. Der Markt in der Bundesrepublik gab die Rekordpreise her, denn der Markt, das waren die Kassen, und die zahlten ja. Das Bonner Gesundheitsministerium drohte bestenfalls mit dem Stöckchen und sah in den letzten Monaten tatenlos zu, wie die westdeutsche Pharmaindustrie Ärzte und Patienten in der Ex-DDR mit ihren Produkten auf das horrende Preisniveau „angefixt“ hat. Mit den jetzt so gescholtenen Pharmagiganten hat sich auch Norbert Blüm bisher nie ernstlich angelegt, und er wird es — wie aus gestrigen Verhandlungen in Bonn verlautete — auch in diesem aktuellen Konflikt nicht tun. Vera Gaserow

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