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„Die Schweiz hat Fieber“

Die diesjährigen 700-Jahr-Feiern des Rütli-Schwurs geraten zum Happening für die Opposition  ■ Aus Genf Andreas Zumach

Ein Jubiläumsfest voll unbeschwerter Feierlichkeiten hätte es werden sollen für die SchweizerInnen, dieses 1991. Am ersten August jährt sich der Rütli-Schwur und damit die Gründung der helvetischen Eidgenossenschaft zum 700. Mal. Doch auf die zumeist von oben angestoßenen Planungen für die 700-Jahr-Feiern haben Identitätskrise und Verdrossenheit gravierende Auswirkungen. Schon zu Beginn des Jubiläumsjahres herrscht Katerstimmung im Land zwischen Basel und Lugano, St. Gallen und Genf.

An Silvester blockierten Unbekannte mit gefällten Baumstämmen einen Eisenbahnzug, der 500 Gäste zur Eröffnungsfeier für das Jubiläumsjahr in ein Bergdorf des Jura bringen sollte. Die EinwohnerInnen zahlreicher Gemeinden und Kantone lehnten bei Abstimmungen die Bereitstellung finanzieller Mittel für 700-Jahr-Projekte ab. Die Gemeinde Emmen wehrt sich gegen eine Autobahnabfahrt in ihren Ort, die eigens für die Veranstaltung eines Militäraufmarsches errichtet werden soll. 482 Kulturschaffende aller Sparten — darunter die prominentesten des Landes — haben erklärt, jegliche Mitarbeit an Veranstaltungen zu boykottieren. Ein Komitee „700 Jahre sind genug“ bereitet im ganzen Land Gegenveranstaltungen zu Themen wie Schweizer Asylpolitik, Militärdienstverweigerung, Umweltschutz oder Bankenpolitik ein. Höhepunkt der Gegenaktivitäten ist ein nationales Fest, zu dem unter anderen der ehemalige Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega, eingeladen werden soll.

Landauf, landab bereiten Organisationskomitees seit Monaten allein 60 nationale und mehrere 100 kantonale Veranstaltungen vor. Von den unzähligen lokalen Volksfesten ganz abgesehen. Zu den geplanten überregionalen Höhepunkten gehören eine Alphorn-Tonstafette von Bergspitze zu Bergspitze, eine Frauenparlamentssitzung, die Aufführung der Geschichten um Nationalheld Wilhelm Tell in einem großen Freilufttheater sowie eine Umwanderung des Urner Sees, an dessen 35-Kilometer-Rundstrecke der Rütli und andere historische Stätten liegen.

Die Eidgenossen befinden sich in einer tiefen Identitätskrise. Die zahlreichen Skandale der letzten zwölf Monate haben ihr Selbstbewußtsein sowie ihr Vertrauen in die politischen Institutionen und das System der direkten Demokratie schwer erschüttert. Die Affäre um Bundesrätin Kopp, die jahrzehntelange Bespitzelung von über 900.000 BürgerInnen, zahlreiche Fälle, in denen illegale Drogengelder in der Schweiz gewaschen wurden — und schließlich die zum Jahresende aufgeflogene Existenz eines Geheimdienstes und einer geheimen Untergrundarmee führten zu den ersten Untersuchungsausschüssen in der Geschichte des Berner Bundesparlaments. Selbst Bundespräsident Flavion Cotti diagnostizierte: „Die Schweiz hat Fieber.“

In der Bevölkerung wächst die Kritik an bislang heiligen Kühen. Es breitet sich die Befürchtung aus, die Schweiz könne die internationalen Entwicklungen verschlafen und völlig in die Isolation geraten. Der Beginn des EG-Binnenmarkts in zwei Jahren, der den wirtschaftlichen Außendruck auf die Schweiz erheblich verschärfen wird, verstärkt auch innerhalb der bislang auf nationale Eigenständigkeit pochenden politischen Klasse den Ruf nach einem Kurswechsel — das heißt nach einem Schweizer Aufnahmeantrag in Brüssel.

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