: Große Koalition der leeren Taschen?
■ Waigels schneller Subventionsabbau für Berlin KOMMENTARE
Es ist in Deutschland gute Tradition, niemandem mit einem blauen Brief das Weihnachtsfest zu verderben. So konnte es eigentlich nicht überraschen, daß Bundesfinanzminister Waigel (CSU) bis zum ersten Arbeitstag des neuen Jahres wartete, um seinem Berliner (Noch?-)Kollegen Meißner (SPD) reinen Wein einzuschenken. Die OstberlinerInnen sollen keinen Pfennig von den sechs Milliarden DM bekommen, die ihnen der Berliner Regiermeister in spe Diepgen und sein Vorgänger Momper aus Bonn zugedacht hatten. Sie müssen sich also jede Hoffnung auf eine schnelle Angleichung ihrer Lebensverhältnisse an die WestberlinerInnen abschminken. Aber auch die Wessis kommen nicht ungeschoren davon: Sie sollen innerhalb der nächsten vier Jahre nicht nur als Arbeitnehmer auf Berlinzulage und als Unternehmer auf Berlinförderung verzichten, sondern auch noch auf die zwölf Milliarden DM aus Bonn, mit denen bisher die öffentlichen Dienstleistungen in Berlin subventioniert wurden. Berlin soll praktisch zum sechsten der FNL (Fünf Neuen Länder) werden.
Wer dachte, Bonn werde die BerlinerInnen für die Abwahl der rot-grünen Koalition belohnen, war in meinen Augen schon immer ein Anwärter auf ein Diplom in politischer Naivität. Das was Waigel jetzt ankündigt, geht jedoch weit über den normalen Umgang mit einem „schwierigen“ Bundesland hinaus. Die BerlinerInnen sind eben nicht wie ihre Landsleute in Hessen und Niedersachsen oder gar wie die in Bonn weit weg von dem ökonomischen und sozialen Elend der FNL. Sie müssen mit ihren 1,4 Millionen Brüdern und Schwestern im Ostteil der Stadt teilen — ob sie wollen oder nicht. Wer die Brisanz ignoriert, die ein so einschneidender Eingriff in den Alltag von zwei Millionen Menschen hat, wer Kita-Schließungen, Schulklassenvergrößerungen, Familiengeldkürzungen und den Abbau von Mietsubventionen ect. bedenkenlos in Kauf nimmt, ohne den Menschen auch nur im Ansatz erklären zu können, wie es denn insgesamt in Deutschland mit der Herstellung der grundgesetzlich verbürgten „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ weitergehen soll, der muß schon weit weg von Berlin und den anderen ostelbischen Ländern residieren, um dies politisch zu überleben.
Und die Akteure vor Ort? Die SPD hat Waigel mit ihrer schnellen und quasi blanko gegebenen Zustimmung zur großen Koalition in Berlin das Spiel sehr leichtgemacht. Nun muß sie Arm in Arm mit dem politischen Leichtgewicht Diepgen den Mangel verwalten. Ob sie vor diesem Hintergrund nicht doch noch einmal darüber nachdenkt, daß politische Macht nur dann einen Wert hat, wenn man sich auch einen Handlungsspielraum erkämpft, um sie zu nutzen? Klaus-Martin Groth
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