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Der Untergang des Sozialismus in Marzahn

■ Ihr Leben sollte vor der Wende »schmuck und sicher« sein — heute sind die MarzahnerInnen mehr als irritiert

Marzahn. Neben der Schrebergartenkolonie quaken die Frösche. Baubrigaden sind auf dem Acker versammelt und auch der Berliner Bürgermeister ist da. Ein Kran zieht eine riesige Richtkrone nach oben. Es wird in Hymnenform gedichtet, was das Zeug hält, die Betonung immer auf der eins: »100.000 Menschen ziehen bald hier ein und so soll ihr Leben schmuck und sicher sein! Hoch die Krone, hoch den Stadtbezirk! Hochruf allen jenen, die schon mitgewirkt haben! Hochruf den Bewohnern, dazu zählen auch wir! Hoch den Sozialismus, überall und hier.« Marzahn im Frühling 1976; eine Stadt wird gebaut, so groß und schön wie der Sozialismus selbst.

Ein Jahr später: Honecker kommt nach Marzahn und übergibt die 10.000. Wohnung seit dem VIII. Parteitag einer rechtschaffenden Arbeiterfamilie. Im gleichen Jahr besuchen die Kosmonauten Sigmund Jähn und Walerie Bykowski das »Kind der Republik« und schütteln den Marzahnern die Hände — seither heißt die größte Straße in Marzahn »Allee der Kosmonauten«. Jährlich zum Tag der Republik strömen ungezählte Marzahner zum Helene-Weigel-PLatz; der graue Beton ertrinkt im roten Fahnenmeer, Blaskapelle und NVA geben sich ein Stelldichein. Und es geht »weiter voran im Aufbauprogramm«. 1986: Sonderempfang. Gorbatschow besichtigt die Marzahner Promenade — das Schmuckstück des Bezirks. Er zeigt sich begeistert von soviel Aufbau, soviel Leistung und auch Willy Brandt, der im selben Jahr durch Marzahn geführt wird, soll erstaunt in die Hände geklatscht haben...

Die DDR wir 40 Jahre alt und wieder jubelt Marzahn. Den Einwohnern geht's gut. Sie sind fernbeheizt, und wo die Couchgarnitur steht, fängt das Zuhause an. Neben der Karriere war für viele die Aussicht auf eine eigene Wohnung ein Anreiz, nach Berlin zu gehen. 79,5 Quadratmeter Wohnraum steht in Marzahn der vierköpfigen deutschen Kleinfamilie zu.

Die Blumenvorgärten, die vor einigen Wohnblocks angelegt worden sind, haben die Marzahner gehegt und gepflegt. Die Namenszüge an den Wohnungstüren sind auf kleinen Schildchen in Bronze geritzt oder herzförmig umrandet. Rustikal gehaltene Holztäfelchen mit einem schlecht gereimten »Hacken abkratzen!« oder dem scherzhaft mahnenden »Hälst du unser Häuschen rein, sollst du als Gast willkommen sein!« zeigen dem Besucher, daß hier eine Familie sich im Zustand des Wohlseins befindet. In merkwürdigem Kontrast dazu erscheint die selbst für die ehemalige DDR ungeheuer hohe Scheidungsrate von über 30 Prozent; die zweithöchste nach Manhattan, so erzählt man es sich in Marzahn.

An der Eingangstür neben den Briefkästen zerfleddert langsam ein mit Blümchen umrandeter Anschlag: »In dieser Woche ist fürs Reinemachen zuständig: ...« Dort trägt sich allerdings schon lange niemand mehr ein. »Tja, dies war vor der Wende besser.« Mit einem Seufzer lehnt sich Herr Lescau tiefer in den Kunstlederbezug seines Sofas, »da war man doch irgendwie solidarischer.« Herr Lescau, von Beruf Polizist, lebt mit seiner Frau, seinem 18jährigen Sohn und der 22jährigen Tochter seit zwölf Jahren in einem Wohnblock im ersten Bauabschnitt. Vor der Wende, erzählt er, war es Pflicht, sich in einer Hausgemeinschaft zu solidarisieren; dort wurde die HGL ernannt — die Hausgemeinschaftsleitung — mit der HGV — dem Vorstand. Dessen Aufgabe: »Ordnung schaffen. Sehen, daß alles seinen Gang geht.« Überquellende Müllkörbe und Abfälle im Treppenhaus hätte es früher nicht gegeben, man sei sich überhaupt als Mieter nähergekommen. Herr Lescau war selbst im Vorstand, aber das sei lange her, sagt er. Neben der Organisation von Putzplan, Partykeller und Festlichkeiten gehörte auch das Führen eines Hausbuches zu den Aufgaben des Vorstandes. Jeder Mieter wurde damit registriert, jeder Besuch, der länger als eine Woche blieb, sowie regelmäßig wiederkehrende Gäste, Geburten, Scheidung und Festlichkeiten. Einmal im Jahr wurde das Hausbuch von der Meldestelle eingezogen. Ob die Stasi die Hausbücher habe einsehen können? Das sei wohl möglich gewesen, in Einzelfällen, meint Herr Lescau.

Er trauert nicht nur seiner HGL nach, auch sein Weg zum Arbeitsplatz ist heute fast doppelt so lang und beschwerlicher — »man kennt sich ja nicht so aus im Westen«. Früher war der untersetzte Mittvierziger Polizist in Friedrichshain, heute muß er zu seiner Dienststelle bis nach Kreuzberg fahren. Über seine Arbeit mag er nichts erzählen, nur, daß auf dem Revier alles »drunter und drüber« ginge. Der Senat wisse wohl noch nicht so ganz, wie die »neuen Kader« aufzubauen seien. Chaos ist für ihn ein rotes Tuch, und so wünscht er sich für seinen Arbeitsplatz nur, daß bald wieder »alles im Lot ist«.

Auf dem Arbeitsamt 4 wartet im dritten Stock Herr Weigel. Hier sitzen dichtgedrängt auf dem schmalen Flur die Arbeitssuchenden aus dem Bereich Verwaltung. Etliche distinguiert aussehende Herren im auffällig-unauffälligen grauen Anzug halten sich an ihren Aktenkoffern fest und starren aneinander vorbei Löcher in die graue Tapetenwand. Ehemals zuständig für kleinere Aufgabenbereiche haben sie Pflicht und Soll erfüllt und zugesehen, daß »man so halbwegs leben kann«. Stereotypen in auch ungefragt gehaltenen Entlastungsreden, Zustimmung heischende Blicke und immer wieder die feststellende Frage: »War doch so, oder?« Im dritten Stock — von bösen Zungen »Partei-Klitsche« genannt — fühlt man sich als Opfer dessen, was die einen früher gemacht haben und jene heute tun.

Die wenigsten von ihnen hatten wie Herr Weigel früher eine Führungsposition inne. Seit 1980 beim zivilen Luftschutz für den nuklearen und chemischen Schutz eingesetzt, wurde er 1984 als Offizier in die Hauptverwaltung des zivilen Luftschutzes nach Berlin versetzt und bezog seine Einraumwohnung. »Ohne private Verpflichtungen«, wie er sagt, widmete er sich hier ganz seiner Aufgabe: die Erarbeitung von Einsatzstrategien sowohl für den Katastrophen- als auch für den Kriegsfall. Jetzt ist er arbeitslos, seine Abteilung wurde aufgelöst. Mit 48 Jahren ist es für die Rente zu früh, für eine Umschulung zu spät.

Während sein Stolz darin besteht, »sich von der Pike auf hochgearbeitet zu haben« und sich in seinem Fach auszukennen, kränkt ihn um so mehr, daß niemand ihn heute mehr braucht. Mit erhobener Stimme erzählt er, daß es ein leichtes sei, mit geschickt gelegten Sprengsätzen ganz Deutschland zu verseuchen, beispielsweise die Berlin passierenden Chlorzüge hochgehen zu lassen. »Das sollte man direkt einmal machen, damit die da oben mal merken, wie nötig wir sind!«

Ein einziges privates Friseurgeschäft gibt es in Marzahn. »Man bekommt einfach keine Räumlichkeiten«, jammert die Friseuse Frau Mietke, während sie einer Kundin die Haare föhnt. In der reinen Wohnstadt gab es bis auf die Kaufhallen keine Gewerberäume. Dort heißt es jetzt: »Willkommen bei Kaisers!«

Diskutiert wird bei Frau Mietke, bei der nach Westtarif ein Haarschnitt um die 30 Mark und eine Dauerwelle 45 Mark kostet, ob alles besser oder alles schlechter geworden ist, was wohl werden wird und was man mit den Stasi-Leuten machen soll. »Also, diese Hetze gegen die 85.000 Stasi-Leute finde ich ganz fürchterlich«, sagt Frau Mietke: »Die großen überleben, die Kleinen müssen dran glauben.« Die Kundinnen nicken mit ihren lockenwickler- umwickelten Köpfen und stimmen zu oder werfen eine andere Meinung in die warme, feuchte Gemütlichkeit des Friseursalons. Jede hat mit einem Beispiel aus dem Bekanntenkreis aufzuwarten oder ist direkt betroffen.

So zum Beispiel Frau R. Sie ist Mitte dreißig und trägt einen weißen Pulli. Angefangen hatte ihre Laufbahn beim MfS eigentlich schon mit 18, als sie sich nach dem Fachabitur und einem unglücklichen Abschluß zur Baufacharbeiterin beim Zoll beworben hatte, bei der »Eierpolizei«. Als sie dort vom Staatssicherheitsdienst angeworben wurde, war sie »stolz«. Das Problem war nur: »Man durfte es ja keinem erzählen.« Seit '77 arbeitete Frau R. in der Primärdatenerfassung der Abteilung VI, der EDV-Verarbeitung von Daten aller die Grenze passierenden Reisenden. Nach einiger Zeit stupider EDV-Arbeit und weiteren sieben Jahren Fernstudium hatte sie sich bis zur Leiterin eines Kollektivs von 300 EDV-Sekretärinnen hochgearbeitet, die »goldene Medaille für treue Dienste« erhalten und sich und der Familie den großen Traum in Form einer Schrankwand, Eiche, furniert, plus Couchgarnitur erfüllt. Ihr Mann arbeitete als Kriminologe in der Bezirksverwaltung der Stasi in der Abteilung für höhere Kader. Das monatliche Einkommen, je rund 2.300 Mark, wurde in einen Ferienbungalow investiert. Erst im Februar 1990, als auf dem Weg zur Arbeit Frau R. in den Nachrichten Modrows Erklärung hörte, daß in der DDR keinerlei Daten mehr erfaßt würden, war klar, daß die Datenerfassung der Abteilung VI über kurz oder lang ein Ende hätte. Unabhängig voneinander hatten Frau R. und ihr Mann sich bei der Post beworben, wo sie im März als Sekretärin, er als Fernmeldetechniker eingestellt wurden.

Frau R. fühlt sich durch die vom Senat angeforderten Fragebogen und das zusätzliche Gespräch mit den neuen Vorgesetzten, zu dem das Ehepaar im Dezember eingeladen wurde, regelrecht verfolgt. Dabei habe gerade sie auf ihrem Posten wirklich keine verbrecherischen Tätigkeiten ausgeführt.

Marzahn an einem Abend im Januar 1991: Eine Gruppe von Jugendlichen überquert die Straße. Sie kicken sich Kieselsteine zu und rufen: »Mielke — Er soll unser Führer sein« und dann: »Wir sind keine Hooligans, wir sind einfach Deutschland- Fans.« Und sind schon um die nächste Häuserecke verschwunden. Simone von Stasch

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