: Der Schliemann-Effekt
■ Die Montagsexperten kehren zurück und gedenken der Hauptstadt HAUPTSTADT GANZ NACKT — FOLGE 1
Kann man sich denn je sicher sein, mit den Gedanken auf den Wellenkämmen zu surfen, die uns vorantreiben, Bruderwellen, deren Schlag an den Strand Geschichte geheißen wird, ja, Fortschritt? Nein, kann man nicht.
Vor einiger Zeit beschlossen wir Montagsexperten der ersten Folge, fürderhin zu verstummen. Hochgekommen in der Geselligkeit der alten Bundesrepublik, einem Staat, den sich so recht niemand vorstellen konnte — bestellte er sich doch ohne große Wirkung des wählenden Publikums selbst, zusätzlich die Gedanken verfinstert vom Schatten der Geschichte — einem Staat, dessen Umriß leicht zu verwechseln war mit dem Scherenschnitt unserer Parentalgeneration, war uns die Auferstehung dieser Nation Schreck und Bestätigung. Hier lernt keiner, nicht aus Geschichte, nicht aus Erfahrung, und doch wird dies nicht Gelernte sogleich in die Tat umgesetzt. So hohl dieser Vorgang, so hohl auch der Namen dieser Nation: Deutschland. Ein abstraktes und duster-wüstes Wortmonstrum, alles-in- allem meinend und doch von einer zielstrebigen bürokratischen Tödlichkeit, die gerne Goethe zitiert.
Während also in den vergangenen Monaten die Wellen der Geschichte an den Strand schlugen, der mit den Ziegelsteinen für das europäische Haus gepflastert war, machte die Brandung Geräusche, die Mauern fallen, Währungen sich ausbreiten und Gebiete beitreten ließen. Und der historische Prozeß ließ Gebirgszüge erodieren, die wir für ewig haltbar hielten, und: Wir rutschten mit. Leider mit dem Rücken zum Ziel. Denn noch die Vergangenheit betrachtend, klagten wir an, vorangetrieben zu werden, weiß Gott wohin, Gutes schien nicht zu kommen.
Ich muß gestehen: viel zu spät erst wagte ich der Geschichte ins deutsche Auge zu blicken. Es war am 23. August 1990, einen Tag vor meinem 29. Geburtstag und genau 29 Jahre und 10 Tage nach dem Bau jener Mauer, die mir seit meiner Geburt den Horizont eingrenzte, was ein nicht unangenehmes Gefühl von Sicherheit zur Folge hatte. War es denn nicht so, daß alle, die innerhalb der Mauern West-Berlins sich befanden, eigentlich ausgesperrt waren, exterritoriale Wesen, die nicht wußten, ob nach West oder Ost? Und war es nicht gerade dieser Umstand, der uns, die wir spätestens nach dem ersten Deutsch-Aufsatz wußten, daß wir wurzellose Profis der Subversion sind, anzog und uns so zu den einzigen Profiteuren der Mauer machte? (Hört, hört!)
An diesem Morgen des 23. August aber war sie fort, die Mauer. Dort, wo ich seit Jahren jeden Morgen eine fixe 90-Grad-Wendung machen mußte, um nicht auf das Graffito »Franz, ich liebe dich«, mehr noch aber, um nicht auf den Malgrund, die Mauer, zu knallen, war: Nichts. Kein Franz, keine Liebe, keine Mauer, nur Luft und die Aussicht auf Brachland, welches es selbst in 29 Jahren und 10 Tagen nicht geschafft hatte, den alten Straßenzug zu überwildern. Ehrlich, das war ein richtiges Troja-Entdeckungs-Gefühl, denn hinter dem Straßenzug lagen andere Häuser, neue Nachbarn, Osteuropa. Und in diesem Moment, da aus Saulus Schliemann wurde, verflogen alle Sperren, die mich von der jüngsten Geschichte trennten, und ich wußte, hier ist es historisch, hier ist Berlin, hier springe über deinen Schatten, denn im Lichte steht ab sofort: die Hauptstadt, die Metropole, liegt Megalopolis Berlin.
Hauptstadt! Wie das klingt in den Ohren dieser geschundenen Stadt! Was hatte sie denn schon in den letzten Jahrzehnten zu bieten? Wo war der Glamour bei Eröffnung der Opernsaison? Fuhren große Limousinen vor, gesteuert von Chauffeuren, entstiegen ihnen die Großen aus Show, Geld und Adel, um bewundert und beklatscht zu werden? Nein, hier fuhr nur der Leiter der Spielwarenabteilung von Hertie vor, womöglich mit der U-Bahn, Günther Pfitzmann geht nicht in die Oper und Gloria von Thurn und Taxis bleibt, so sie ist, denn der Ehemann starb gleich an mehreren gebrochenen Herzen, allerdings nicht in Berlin. Selbst das große Verbrechen kam nur bis zur Elbe, seit 1945 mußte man sich hier mit mittelmäßigen Bauskandalen begnügen, ohne eine einzige vernünftige Schießerei [Hallo, ihr anhungslosen Expertenherzchen: Vor ungefähr 20 Jahren gab es in der Gegend um die Bleibtreustraße Straßenkriminalität und als Hit auch eine richtige, Original-Chicago-like-Straßenballerei! Also, die Nasen in die Zeitungen und Geschichtsbücher gesteckt, eh ihr weiterhin so ein halbgares Zeug behauptet! d. säzzer] und ohne, daß es je zu wirklich unanständig riesigen Wolkenkratzern gekommen wäre.
Überhaupt: fehlte und fehlt es nicht noch in Berlin gerade an den Extremen von absolut reich und bitter arm, einem Gefälle, das andere Metropolen so pittoresk macht, so spannend, so aufregend, wenn der Obdachlose auf den Milliardär trifft, die Jugendgang auf die Jeunesse dorée, und im 'Merian‘ hat es dann schöne Fotos davon. Ja, ist es nicht gerade dieses Gefälle, diese Rutschbahn, der mögliche Fall ins Bodenlose, der die Menschen zu Höchstleistungen antreibt, die Off- Theater zu grandiosen Inszenierungen, junge Maler zu neuen Stilrichtungen und Regisseure zu Hollywood, Höchstleistungen, die doch erst eine Metropole ausmachen?
Gerade wir, die knapp 30jährigen, sollten am Scheitelpunkt von draufgängerischer Jugend und vorsichtiger Erfahrung die Gelegenheit beim Schopfe packen, zu den Sternen greifen, in Jahrhunderten denken, bis auch uns das Glück winkt. Denn, wenn nicht die Metropole Berlin, die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts, was ist dann der Esel, der Stroh frißt und Golddukaten scheißt?
Eben solche Fragen werden wir ab jetzt jeden Montag auf diesen Seiten beantworten. Wir, das sind Höttges und Bohlmann, beide 29 Jahre alt, tragen beide eine Brille, haben beide dunkelblondes Haar, und die Black-Denim-Jeans aus West- Berlin herübergerettet. Und wenn Deutschland solange hält wie West-Berlin, schreiben wir, bis Berlin Hauptstadt wird oder uns die Luft ausgeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen