Kinder in dünner Luft

In einem Brauereikeller im Münsterland treffen sich regelmäßig Eltern mit ihren kleinen Kindern. Sie hocken auf schmalen Holzbänken in dem circa 10 mal 2,50 Meter großem, sehr niedrigem Gewölbe, einem Nebenraum des eigentlichen Gärkellers. Mindestens eine halbe Stunde verbringen sie in der feuchten, sechs bis acht Grad kalten und stark nach Bier riechenden Luft. Gemütlich ist dieses Beisammensein nicht gerade, doch das stört die Eltern wenig und die Kinder atmen sogar jedes mal auf, wenn sie in den Keller dürfen. Diese seltsame Gemeinschaft, die sich da viermal in der Woche in biergeschwängerter Luft trifft, ist nicht etwa eine neue Sekte. Sie machen es auch nicht aus pädagogischen Gründen, etwa um den Kleinen schon früh einen Ekel vor Alkoholdunst anzuerziehen. Nein, die Treffen haben rein medizinische Gründe, denn alle Kinder im Gärkeller sind krank. Sie leiden unter einem ansteckenden Katarrh der Luftwege, bekannt als Stick- oder Keuchhusten. Diese fiese Krankheit mit ihren krampfhaften Hustenanfällen befällt Kinder jedes Alters. Normalerweise dauert der Keuchhusten vier bis acht Wochen, es können aber auch sechs Monate daraus werden. Um den armen Kleinen etwas Linderung zu verschaffen, brauchen sie dünne Luft, damit sie freier und tiefer durchatmen können. Eltern mit viel Geld chartern Flugzeuge, um ihre Kinder in die entsprechende Höhenluft zu schaffen. Einfacher und genauso wirksam sind Brauereien, allerdings nur solche, die noch offene Gärbottiche verwenden. Während des Gärungsprozesses werden Hefe und Malzzucker in Traubenzucker umgewandelt. Dieser verwandelt sich wiederum in Alkohol und Kohlendioxid. Das gasförmige Kohlendioxid entweicht in die Raumluft und diese reichert sich mit rund zwei Prozent Kohlensäure an, dem dreifachen der normalen Konzentration. Der Sauerstoffanteil der Luft sinkt, sie wird dünner und die Kinder können durchatmen. Die gesundheitlich positive Wirkung der Brauereiluft ist seit Jahrzehnten bekannt und viele Bierfirmen stellen ihre Gärkeller kostenlos zur Verfügung. Trotzdem ist die Kellerkur eher ein Geheimtip, der durch Mundpropaganda weitergereicht wird. Viele Eltern fürchten vielleicht auch eine klassische Konditionierung à la Pawlow. Die lieben Kleinen werden den Geruch von Bier wahrscheinlich zeitlebens mit einem sehr angenehmen Gefühl gleichsetzen. Das ist bestimmt im Sinne der Brauereien, dürfte bei vielen Eltern aber blankes Entsetzen auslösen. Karl Wegmann