piwik no script img

Regeln, die man nie vergißt

■ Robert Doisneau, Lehrjahre in Billancourt. Highlights

Fotografen bei Renault! Wie die Laufburschen oder Gärtner waren wir so etwas wie die Schlacke in einer Welt der Arbeit. Wollte man ein Bild machen, fragte man, ob man störe. Mir war natürlich klar, daß man einem Arbeiter nicht zu kommen brauchte nach dem Motto: „Wirklich nett, deine Maschine. Die werd ich gleich mal aufnehmen.“

Damals packte noch jeder seine Stulle und sein Sauerkraut aus. In einem solchen Moment darf man auf keinen Fall seine Kamera aufstellen. Keiner mag sich beim Essen fotografieren lassen. Beim Trinken ist das etwas anderes. Man nimmt eine stolze Haltung ein. Prostet sich gegenseitig zu. Simple Regeln, die man nicht so schnell vergißt.

Wirklich die Hölle war die Schmiede: ein ständiger, ohrenbetäubender Lärm. Und dazu die Gefahren. Aber die Leute sind stolz, wenn sie einem schwierigen Metier nachgehen. Es gilt nämlich als männlich. Genau wie jene, die an den großen Pressen arbeiteten, wußten sich die Schmiede Respekt zu verschaffen. Die Vorarbeiter hätten nie gewagt, sie anzupflaumen, wie sie es mitunter bei den Facharbeitern machten.

In der Gießerei gab es eine Menge Nordafrikaner. Das war schon eine üble und — wegen der Hitze — drückende Tätigkeit. Dauernd in diesem fürchterlichen Lärm und immer mitten in den Funken. Auch die Lackiererei war ein schmutziger Job, den man den Algeriern überließ. Heute spielt sich das alles auf speziellen Straßen und mit Spritzautomaten ab. Damals hatten die Arbeiter zu ihrem Schutz nur einfache Masken. Mehr als einer hat da seine Gesundheit gelassen. Manch einer sein Leben.

In völliger Autarkie zu produzieren, war die Obsession von Louis Renault. Die Vorstellung, von anderen abhängig zu sein, ertrug er nicht. Also stellte er Scheinwerfer, Batterien, Reifen, Sitze, Kolben, Packpapier, ja sogar Ziegelsteine her, um weitere Fabriken hochzuziehen. Abgesehen von Personen- und Lastkraftwagen war der Name Renault präsent in der Luftfahrt, in der Landwirtschaft, bei Schiffsmotoren und Schienenfahrzeugen. Ein in sich geschlossenes Wirtschaftssystem — das war sein feudalistisch inspirierter Traum. Im übrigen zeigte sich sein Größenwahn in den diversen Immobilien: ein eigenes Hotel, natürlich Avenue du Bois [Anm. des Herausgebers: Berühmter Boulevard im noblen 16.Arrondissement, heute Avenue Foch], das Landgut Ercqueville mit Kellerräumen für die Hausangestellten und Aufzügen, um Gäste geradewegs zum Seineufer zu bringen. Vor allem aber die Insel Chausey, wo ihm eine mittelalterliche Burg gehörte, grauenvoll eingerichtet: Stühle etwa, die vor allem dazu taugten, sich das Genick zu brechen.

Ich hatte mich nicht übel angestellt seit 1934. Aber schließlich fing Renault an, mir auf den Geist zu gehen. Ich war mir sicher, daß ich zu mehr imstande war. Zwar hatte ich keinerlei Beziehungen, aber ich hatte das Gefühl: Wenn es mir erst einmal gelang, Farbfotos herzustellen, dann würde ich mich endlich selbständig machen können.

Zurück von Billancourt, bastelte ich jeden Abend in meiner Küche an einem Kopierprozeß, bei dem die drei Primärfarben die natürliche Farbenskala wiedergaben. Sensibilisierte Papiere, und zwar bestimmte Zelluloid-Folien, wurden mit Hilfe eines Kohle-Umdruckverfahrens auf weißes Papier übertragen. Autotype- Carbro nannte sich das Ganze. So arbeitete ich die halbe Nacht. Notgedrungen kam ich zu spät nach Billancourt und mußte an meiner Stempelkarte manipulieren.

Eines Tages wurde ich zum Personalchef zitiert. Ein alter Haudegen, ziemlich trocken. Er legte mir meine gesammelten Fälschungen vor und hieß mich auf der Stelle verschwinden.

Vor 1936 besaß ich keinerlei Klassenbewußtsein. Als es zum ersten Streikaufruf kam, hatte ich spontan nur einen Gedanken: Kanu fahren. Meine Frau, ein Freund und ich waren an die Marne gefahren, in die Nähe von Noisy-le-Grand. Am Abend allerdings fühlten wir uns plötzlich doch etwas beunruhigt. Ein weiterer Freund war aufgetaucht, um mir mitzuteilen, daß es am nächsten Tag im Kino von Boulogne-Billancourt eine Versammlung geben würde. Obwohl ich nicht so recht daran glaubte, ging ich hin und war dann doch ein wenig irritiert: die Überzeugung der Leute, ihre mehr als berechtigten Forderungen, die aufgedeckten Ungerechtigkeiten. Der Alltag für diese Menschen sah nämlich so aus: Aufstehen in aller Herrgottsfrühe, den ganzen Tag lang schuften, hinterher gerade Zeit genug, um sich an einem Wasserhahn an der Außenwand etwas zu waschen, und dann schnurstracks nach Hause. Kaum ertönte abends die Sirene, setzte man sich fluchtartig in Bewegung, schnappte die nächste Métro, rollte sich in seinen Sitz und schlief ein.

Während der gesamten Streikwelle habe ich nicht ein einziges Foto gemacht, das der Direktion als Beweismittel hätte dienen können. Die Lust, auf der Marne Kanu zu fahren, war mir im übrigen vergangen. Jetzt hieß es erst einmal, der Gewerkschaft beizutreten. Die Ereignisse von 1936 hatten etwas von einem irren und irgendwie spontanen Fest. Eine Demonstration des Willens und der Macht zugleich. Natürlich verließ man seinen Arbeitsplatz und mischte sich unter die Massen vor den Toren. Im dritten Stock jenes Gebäudes, wo sich auch unser Studio befand, hockten die Angestellten, unbeeindruckt von dieser nicht selten aggressiven Kundgebung. Wer hätte das vorhersehen können? Die meisten Zeitungen waren der Meinung, es wäre ausgeschlossen, die Forderungen der Arbeiter zu akzeptieren. Das würde bloß die Automobilpreise in die Höhe treiben. Und dann die Vorstellung von Ferien. Diese Typen da am Strand. In Badehosen. Wenn das nicht die Touristen abschreckte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen