Das Ende eines Nachkriegsprovisoriums

■ Am kommenden Freitag konstituiert sich in der Nikolaikirche das erste Gesamtberliner Abgeordnetenhaus seit 40 Jahren

Berlin. Obwohl das schicksalsträchtige Jahr der Einheit vorbei ist, stehen den BerlinerInnen immer noch historische Daten ins Haus: Am Freitag dieser Woche, am 11. Januar, wird sich zum ersten Mal nach 40 Jahren ein Gesamtberliner Parlament konstituieren. Die 241 neuen Abgeordneten werden sich um zehn Uhr in der für die 750-Jahr-Feier restaurierten Nikolaikirche im Bezirk Mitte versammeln. Die Stadtväter von Berlin haben wieder einmal Gespür fürs Historische bewiesen, Ort und Zeitpunkt sind keineswegs zufällig gewählt. Im Jahre 1809 tagte in der Kirche die erste Stadtverordnetenversammlung von Berlin — allerdings war es, wenn man es historisch ganz genau nimmt, nicht die erste Sitzung überhaupt, andere hatten schon vorher an anderen Orten stattgefunden. Auch der erste Berliner Magistrat wurde in der Nikolaikirche vereidigt. An Traditionen anknüpfen will man auch mit dem Datum: Am 11.Januar 1951 konstituierte sich im Schöneberger Rathaus das erste Westberliner Abgeordnetenhaus nach der Teilung der Stadt.

Die Tradition von freien Wahlen in Gesamt-Berlin in diesem Jahrhundert ist nicht gerade groß. Die letzten gemeinsamen freien Wahlen in Berlin fanden am 20. Oktober 1946 statt — davor durften die BerlinerInnen zum letzten Mal 1929 ein demokratisches Stadtparlament wählen. Entgegen dem Brauch, das Stadtparlament Stadtverordnetenversammlung zu nennen, wird das neue Landesparlament Abgeordnetenhaus heißen; hier, wie in vielen anderen Fragen der Verfassungsgebung, setzten sich die ehemaligen Westler durch. Auch die neue Landesregierung wird wieder Senat und nicht Magistrat heißen, obwohl das die historisch gebräuchliche Bezeichnung für die Stadtregierung war.

Trotz des institutionellen Zusammenwachsens beider Stadthälften Berlins wird es in einer Hinsicht eine Zwitterstellung behalten: Neben Hamburg und Bremen dritter Stadtstaat im neuen gesamtdeutschen Staat, ist es weder altes noch neues Bundesland. Denn Berlin zählt nach der Definition des Einigungsvertrages weder zu den FNL, zu den fünf neuen Bundesländern, noch zu den alten — schließlich gehörte der Westrumpf der Stadt aufgrund der komplizierten Regelungen des Viermächtestatus eben nicht zur Bundesrepublik Deutschland. Ost-Berlin erhielt im Einigungsvertrag nur einen länderähnlichen Status, damit die Vereinigung mit dem Westteil verfassungsrechtlich erleichtert wurde. So geht zwar die Zeit mit zwei Parlamenten und zwei Regierungen — die sich im Oktober zum schönen Magisenat vereinigten — zu Ende, Berlin ist aber noch lange kein Bundesland wie jedes andere.

Am Freitag wird man in der Nikolaikirche nach den feierlichen Eröffnungsreden auch arbeiten. Das Parlament muß sich eine neue Geschäftsordnung geben und den Präsidenten und dessen in Zukunft drei StellvertreterInnen wählen. Präsidentin des Abgeordnetenhauses wird vermutlich Hanna Renate Laurien (CDU), die SPD nominierte gestern Tino Schwierzina und Marianne Brinckmeier als StellvertreterInnen. Außerdem müssen die Abgeordneten die reformierte Westberliner Verfassung verabschieden, die künftig erst einmal für ganz Berlin gelten soll. Auf sie hatte man sich im vergangenen Jahr im sogenannten Einheitsausschuß aus beiden Berliner Parlamenten geeinigt. Der Rest des Magisenats wird weiter regieren, bis auf der nächsten Parlamentssitzung, vermutlich am 25. Januar, die neue CDU/SPD-Regierung vereidigt wird. Kordula Doerfler