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Litfass: Jürgen Rennert

In der aktuellen Nummer der Berliner Literaturzeitschrift Litfass finden sich „Unchristlich-christliche Betrachtungen in neuer politischer Landschaft“ des Schriftstellers Jürgen Rennert, aus denen wir das folgende gern zitieren: „Gegen die stets herzlose Überheblichkeit der vermeintlich Mächtigen ist letztlich nichts wirkungsvoller als die beherzte Ignoranz der vermeintlich Machtlosen. Wenn letztere — im Bewußtsein ihrer Bedeutung als ,kritische Masse‘ — zu den Kerzen greifen, ängstigen sich selbst Sicherheitsexperten, die atomwaffenbestückten Konvois jederzeit seelenruhig das Geleit gaben und geben, fast zu Tode.

Der heilige Gedanke, daß ,die Idee zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift‘, ist leider und gottseidank ebenso wahr wie eine seiner denkbaren Umkehrungen ins Profane. Auch eine Nicht-,Idee‘-Kaffee- Firma machtzehn Millionen närrisch, wenn sie ihnen per Postwurfsendung verspricht, drei Autos unter ihnen zu verlosen. Dieser Vorgang wird sich aufgrund seiner ökonomischen und psychosozialen Bedeutsamkeit ins ,Gedächtnis der Geschichte‘, wenn sie denn eins hat, dauerhafter eingravieren als die Kraut- und Rübennamen der Politiker jener Auf- und Übergangsperiode der beiden vierten deutschen Reiche in ein fünftes. [...] Ich bekenne, duldend und begünstigend von nahezu allem Gräßlichen in meiner Lebenszeit um mich herum gewußt oder zumindest geahnt zu haben. Nichts entschuldigt mich, über die von mir seit dreieinhalb Jahrzehnten mitgewußte fünfjährige Weiterexistenz der einstigen Konzentrationslagervollmundig geschwiegen zu haben. Ich subtrahierte Unrecht von größer gedachtem Unrecht und wußte es insgeheim besser. Unrecht türmt sich auf Unrecht. Das wußte ich. Von den bis 1962 installierten Stehzellen des DDR-Strafvollzugs (etwa für die ,Zeugen Jehovas‘) erfuhr ich 1966, ohne mich sonderlich aufzuregen. Ich glaubte, was ich glauben wollte: Vorbei ist vorbei. Und: So geht's nicht mehr. Der Stasi maß ich die Bedeutung der über und ohne mein Mandat mich Regierenden bei: eine auf tönernen Füßen stehende Gigantomanie, die sich selbst nichts anderes zu vermelden hat als das, was sie ohnehin schon weiß. Eine weitere Schande unter vielen anderen: 1978 drohte ich lauthals zu implodieren, wenn man mich und meine Frau nicht endlich westwärts reisen ließe. Damals ertappte ich mich bei meiner potentiellen Bereitschaft, an meinen reisenden Kollegen Moral- und Stilkritik zu üben, und kam mir genauso niederträchtig vor, wie ich im tiefsten Grunde auch sein kann.“ — Die 'Berliner Zeitung‘, auf deren Wunsch dieser Text im Juli 1990 geschrieben wurde, begab sich der Freiheit, ihn auch zu drucken.

Eine weitere Preziose des Heftes ist eine Ausgrabung von Adolf Endler: „Dr. Irmtraud Gutschke im 'ND‘ vom 5. Juli 90: ,Nicht auszudenken: Jene Kräfte, die schon seit Jahrzehnten die geistige Opposition in unserem Lande getragen haben [Hervorhebungen A.E.], die die Bewegung vom 4. November organisierten, sollen nun auf einmal nicht mehr gemeinnützig sein?‘ Mh, und nun raten Sie mal, wen Dr. Gutschke gemeint haben könnte! Sie tippen... (Fortsetzung siehe rechte Seite)

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