: LENIN IN DER SCHUBLADE
■ Litauen zwischen Vergangenheitsbewältigung und Marktwirtschaft
LITAUEN ZWISCHEN VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG UND MARKTWIRTSCHAFT
VONULRICHSCHNECKENER
In der Kleinstadt Trakai, nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius, ist Feiertag. Durch die Hauptstraße schlängelt sich eine Prozession. Mädchen und junge Frauen in Landestracht halten Blumengebinde, die jüngsten eine Fahne mit dem Stadtwappen. Zwei junge Recken tragen stolz ein großes Gemälde — ein Porträt des grimmig dreinblickenden litauischen Großfürsten Vytautas. Er ist an diesem Tag seit 560 Jahren tot — ein Grund zum Gedenken für die Litauer, die seit dem am 11. März letzten Jahres verkündeten Austritt aus der Sowjetunion keine Gelegenheit auslassen, um sich ihrer langen Geschichte zu erinnern.
Während die Feierlichkeit für einen — zudem schon 1430 verstorbenen — Monarchen westlichen Beobachtern eher skuril erscheint, wirkt sie auf die Litauer identitätsstiftend. In Trakai hatte der legendäre Herrscher seine Sommerresidenz, die heute ein Museum zur Geschichte Litauens ist.
Einige Kilometer vom historischen Boden entfernt sieht die Welt ganz anders aus: Elektrenai ist eine typische sozialistische Reißbrett- Stadt aus Beton. Sie entstand 1962, parallel zum Bau des großen Elektrizitätswerks, das Litauen zu 80 Prozent mit Strom versorgt. Dem Vorzeige-Unternehmen gehört in der Stadt (fast) alles: das Schwimmbad, das Eisstadion, der Kindergarten, die Schulen — und nicht zu vegessen die klapprige Achterbahn, die man dem Moskauer Gorki-Park abgekauft hat.
Der stellvertretende Betriebsdirektor Wiktoras Mekas — ein Mann der ersten Megawatt-Stunde in Elektrenai — zeigt die Stadt, die er und die Arbeiter selbst aufgebaut haben, mit sichtlichem Stolz. Hier müsse sich nicht viel ändern, meint er. Von der wirtschaftlichen Perestroika scheint er nur wenig zu halten, sehr viel allerdings von der Unabhängigkeit Litauens. In der Schaltzentrale des Werks, das mit acht Blöcken eine Jahresleistung von 1.800 Megawatt hat, prangt schon seit zwei Jahren nicht mehr der rote Sowjetstern, sonder das litauische Landeswappen.
Und: In dieser planerfüllten Arbeiteridylle stößt man unvermutet auf einen alten Bekannten. Zunächst macht die große Geschichtstafel (Litauen von seinen Anfängen bis heute) im Eingang des Verwaltungsgebäudes schon etwas stutzig — direkt gegenüber blicken die „Helden der Arbeit“, die Betriebsveteranen, von der Wand. Doch im Chefsekretariat ist man vollens verblüfft. Dort hängt eine Fotografie jenes Gemäldes, dem am Vormittag in Trakai gehuldigt wurde: Vytautas, der verblichene Großfürst, drang bis in das Büro eines E-Werks vor, ein spätmittelalterlicher Monarch inmitten der Errungenschaften des Sozialismus.
Wer hat denn sonst seinen Platz eingenommen? „Früher hatten wir den Genossen Lenin, jetzt haben wir den Genossen Großfürsten,“ antwortet Wiktoras Mekas grinsend. Wladimir Iljitsch liege aber in der Schublade, man wisse ja nie ...
Moskaus Null-Diät wurde unterlaufen
Die Symbole sind ausgetauscht — man will sich von dem Regime Lenins und seiner Nachfolger abgrenzen und greift weit zurück in die eigene Vergangenheit. Doch wie sieht die Zukunft aus? „Ich glaube, daß wir ein staatliches Unternehmen bleiben. Die Energiewirtschaft sollte in den Händen des Staates liegen“, meint Chefingenieur Mekas. Der Eigentümer wäre dann nach seinem Wunsch die litauische Regierung. Deshalb werde man sich trotzdem marktwirtschaftlich organisieren. Mekas: „Die dringend notwendigen Umweltschutzmaßnahmen, der Einbau von Filtern, werden natürlich auf den Strompreis umgelegt. Diese Investitionen tragen die Kunden.“
Jährlich pustet das Werk rund 120.000 Tonnen an Stick- und Schwefeloxiden durch seine Schornsteine. Dennoch ist der Betrieb geradezu sauber im Vergleich zu den Braunkohle-Schleudern in der einstigen DDR. Was Wunder, schließlich erzeugen die 1.100 Beschäftigen in Elektrenai den Strom mit der Verfeuerung von Erdöl und Erdgas. Die Rohstoffe stammen aus Rußland. Für sie muß man wohl in nächster Zeit höhere Preise berappen. „Klarer Fall, unseren Tarif von 2,7 Kopeken pro Kilowattstunde können wir nicht halten,“ weiß Mekas.
Auf die Blockade angesprochen blickt er verschmitzt: „Ja, der Hahn war zugedreht.“ Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung des litauischen Parlaments hatte Gorbatschow den Abtünnigen eine Null-Diät verordnen wollen. Erdöl und Erdgas wurden gesperrt. Das E-Werk konnte nur noch zwei Blöcke mit den Vorräten laufen lassen. Aber: „Litauen besitzt noch ein Atomkraftwerk, das fast nur für den Export Strom produziert. Den haben wir dann nicht mehr abgegeben,“ berichtet Mekas. Außerdem erhielt die weißrussische Republik die für Litauen bestimmten Rohstoff-Lieferungen. Die Belorussen unterwanderten die Moskauer Direktive mit Stromverkauf an ihre aufsässigen Nachbarn. Mekas: „Bei der Stromversorgung richtete die Blockade wenig Schaden an. In einigen Betrieben stand allerdings die Produktion still, weil Rohstoffe und Einzelteile fehlten.“
In Kaunas und Vilnius, den beiden größten Städten Litauens, ist von den Auswirkungen der Blockade nur noch wenig zu spüren. Das Warenangebot ist besser als in den Nachbarrepubliken oder im polnischen Grenzgebiet. Die Autonomie auf wirtschaflichem Gebiet soll eine eigene Währung manifestieren. Angeblich werden in Westeuropa schon die Scheine gedruckt. Das neue Geld soll einen alten Namen tragen: „Litu“, so hieß die Währung schon zur Zeit der Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1940.
Außerdem beginnt ab 1991 die Privatisierung der Wirtschaft. Einige Betriebe geben an ihre Beschäftigten je nach Berufsjahren Anteilsscheine aus. Die baltischen Staaten haben mit ihrer intakten Infrastruktur und dem Zugang zur Ostsee sicherlich von allen Republiken die besten Entwicklungschancen — auch ohne eigene Rohstoffe.
Verhaßte Institutionen des Zentralstaats
Neben dem Geheimdienst KGB in Litauen ist kaum eine andere Institution so verhaßt wie die Rote Armee. Das liegt auch an den zunehmenden Berichten über Mißhandlungen von jungen Soldaten. Seit Jahren schon sind Tote zu beklagen — nach offizieller Darstellung durch Unglücke. Doch daran glaubt niemand. Vielen Bürgern ist außerdem der Sommer 1940 noch in Erinnerung, als Stalin nach dem Pakt mit Hitler das Land umstellen ließ und die Regierung ultimativ zum Rücktritt aufforderte. Kaum war die Annexion vollzogen, begannen die Deportationen nach Sibirien — im Juni 1941 wurden 34.000 Menschen Opfer davon. Den Einmarsch der Deutschen kurz danach empfanden die Litauer als „Befreiung“. „Aber auch nur zwei Monate lang“, erzählt der Schriftsteller und Übersetzer Cetrauskas und denkt dabei an die jüdischen Bürger. 1944/45 herrschten wieder die Russen, die Verschleppungen gingen weiter. Die Schätzungen der Historiker reichen von 300.000 bis eine halbe Million deportierter Menschen.
Deshalb differenzierten die Litauer bei ihren russischen Mitbürgern sehr stark nach dem Zeitpunkt der Einwanderung. Teodoras Cetrauskas erläutert: „Da sind die Russen, die 1920 und später eingewandert waren, weil sie vor den Bolschewisten flüchteten. Und dann gibt es die Russen, die uns Stalin nach 1945 vorgesetzt hat, um uns umzuerziehen.“
Von Karl Marx zu Karl May
Als der Weltkrieg zu Ende war, tobten in Litauen noch bis zu Beginn der 50er Jahre Partisanenkämpfe. Der Vater von Cetrauskas ist dabei getötet worden. Der Sohn und dessen Generation haben die Unabhängigkeit 40 Jahre später mit friedlichen Mitteln erstritten. „Für mich ist das Wichtigste, das ich jetzt schreiben und übersetzen kann, was ich will,“ freut sich der Schriftsteller, der kürzlich ein Buch mit Satiren veröffentlicht hat. Teodoras Cetrauskas gehört zu einer Handvoll von Profis, die deutsche Literatur ins Litauische übersetzen. Dank ihm werden Kinderbücher von Michael Ende und Otfried Preußler in Litauen ebenso gelesen wie Novellen von Heinrich Böll und Luise Rinser. Vor eineinhalb Jahren mußte sich der Zensor in Moskau einen anderen Job suchen. „Bis dahin war jeder Übersetzer in der Sowjetunion von seiner Gnade abhängig. Auf eingereichten Listen hat die Rotznase angekreuzt, was wir übersetzen dürfen,“ ärgert sich Cetrauskas noch heute. Mit ein paar Flaschen Schnaps hat er übrigens die Erlaubnis für die erste Karl-May-Übersetzung in der UdSSR erhalten. Bis 1987 hatte man den Winnetou-Erfinder verboten, weil angeblich Hitler ein Fan seiner Bücher war. Litauen auf dem Weg von Karl Marx zu Karl May ...
Die Presselandschaft hat sich in den letzten Jahren völlig gewandelt. Während es früher 30 Zeitschriften und Zeitungen gab, sind es jetzt nach einer amtlichen Statistik 672. Die Unabhängigkeit hat gerade auf publizistischem und kulturellem Gebiet wie ein Dammbruch gewirkt. Kein Wunder, wenn man weiß, mit welchen Bedingungen früher zum Beispiel der Auftritt eines litauischen Kinderchores verbunden war. Cetrauskas: „Da gab es zentral verordnete Quoten. Es wurde genau festgelegt, wievel russische und wieviel litauische Lieder gesungen werden dürfen.“ Auch die eigene Geschichte wird wiederentdeckt. Dabei stellte man schnell fest, daß die Phase der Selbständigkeit zwischen beiden Kriegen auch ihre Schattenseiten hatte. Schließlich existierte die Demokratie nur bis zu einem Militärputsch im Jahre 1926.
„Es gibt für die heutige Zeit keinen Anknüpfungspunkt in unserer Geschichte,“ weiß Professsor Algirdas, Direktor des Kunst- und Kulturinstituts bei der Akademie der Wissenschaften in Vilnius. Man müsse sich am „europäischen Haus“ orientieren. Dieses Wort Gorbatschows bleibe aber so lange eine „fixe Idee“, bis Moskau der Souveränität des Baltikums zugestimmt hat. Denn: „Ein Haus Europa ohne ein selbständiges Baltikum ist wie ein Haus ohne Ecke.“
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