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ZWISCHEN LENINGRAD UND PETERSBURG

■ Nicht nur bei der Namensgebung der Stadt, sondern auch im alltäglichen Leben sind die Auflösungserscheinungen offenkundig und die Forderungen nach Veränderung unüberhörbar

Nicht nur der bei der Namensgebung

der Stadt, sondern auch im alltäglichen Leben sind die Auflösungserscheinungen offenkundig und die Forderungen nach Veränderung unüberhöhrbar.

VONUDOBECKER

Blut auf dem Platz vor dem ehemaligen Zarenpalast. Es rinnt zwischen den Steinen, versickert vor den Augen der entsetzt zuschauenden Menge. Ein gewöhnlicher Verkehrsunfall. Nikolai Iwanowitsch wird mir später, am Tisch der engen Küche, die steigenden Zahlen der Unfallstatistik zum Besten geben. Was ist das schon in einem Land, in dem in nur fünf Jahren 15.000 Todesopfer unter den Wehrpflichtigen durch militärische Übungen und gegenseitigen Haß unter den Soldaten zu beklagen sind, fragt er rhetorisch. Was ist das schon in einem Land der galoppierenden Zunahme von Verbrechen jeglicher Art? Es verschwindet alles, was nicht niet- und nagelfest ist: Straßenweise sind die Telefonhörer in den öffentlichen Zellen abgeschnitten, in Laboratorien und Werkstätten verschwinden teure Apparaturen. Lethargisch schauen die Verantwortlichen auf das Geschehen.

Während die beiden Opfer des Verkehrsunfalls auf dem Palast- Platz inmitten der stummen Menge erkalten, schallen die Angebote der Reiseunternehmen Leningrads laut über den Platz. Eine neugierige Schar drängt sich in einen Bus zur Stadtbesichtigung, alte Karossen kutschieren Kinder und deren Begleitung rund um die Alexander- Säule auf dem „Dworzowaja“, und eine zu dick geratene Frau radelt unsicher mit einem wundersamen Gestell aus Großvaters Zeiten an mir und meinem Begleiter vorüber, während ein junger Mann auf einer Stute vorbeigeritten kommt.

„Hier also war es, wo im Oktober 1917 die bewaffnete Menge den Zarenpalast gestürmt und die Regierung abgesetzt hat!“ — „Mitnichten“, lächelt der freundliche Historiker an meiner Seite. „Hier hat niemand den Palast gestürmt!“ — „Wie?“ Ich verstehe nicht recht. „Nun, ganz einfach“, lacht mein Begleiter, „diese ganze Geschichte hat man sich erst später, nach zehn Jahren, ausgedacht. Es war ein Künstler, Petrowski hieß er wohl, der einen solchen Sturm arglos ersann, zu Ehren der Revolution vielleicht. Und weil die Zeiten damals ja noch andere waren und das Projekt an entsprechenden Stellen gefiel, wurde es zur historischen Wahrheit erklärt. Ja, es fanden sich sogar Freiwillige, die unterschrieben, am Sturm persönlich beteiligt gewesen zu sein.“ Armes Sowjetrußland — die Säulen auf denen es 70 Jahre lang ruhte, beginnen arg zu wanken.

„Wir fordern, daß unserer Stadt der Name des Heiligen Peter zurückerstattet wird. Unterschreiben Sie unsere Forderung an den Stadtsowjet.“ So ruft die junge Frau vor der Kasaner Kathedrale, und die Menge drängt sich um den Tisch mit der Liste. Die Liste ist von der Christlich- Demokratischen Union Leningrads ausgelegt worden, und obwohl die Frau dieser Organisation nicht angehört, engagiert sie sich für die Kampagne, die von vielen Gruppen und Organisationen der Stadt mitgetragen wird. In den oppositionellen Schriften, solche wie der 'Antisowjetischen Pravda‘, der Zeitschrift 'Ljumpen‘ und vielen anderen steht der neue alte Name der Stadt bereits auf dem Titelblatt: „St. Petersburg, 20.3.1990, Nr. 2, Preis: 1 Rubel“.

Glaube auf eine Rettung von oben

Auf dem Newski-Prospekt sind zwei große Restaurants geschlossen, und Tatjana, die ich dazu befrage, antwortet nur, daß bald noch ein weiteres Restaurant schließen werde. „Es gibt ja ohnehin nichts zu essen.“ Die Furcht vor einer möglichen Hungerkatastrophe mischt sich mit der Hoffnung auf westliche Investitionen, sobald die Stadt den Status einer besonderen Wirtschaftszone erlangt haben wird. Der Mythos Gorbatschow wurde zugunsten Boris Jelzin zurückgedrängt. Jetzt hofft man aber vor allem auf den neuen Bürgermeister der Stadt, Sobtschak. Der Glaube auf Rettung „von oben“ ist nach wie vor weit verbreitet und verhüllt wie Weihrauch das spärliche Wachstum von Eigeninitiative.

Vera Nikolajewna sitzt Tag für Tag in ihrem kleinen Kiosk in der Seitenstraße zum Alten Newski. Sie fühlt sich wohl im Eldorado der Genossenschaftler. Hier drängt sich Kiosk an Kiosk mit den teuren Waren aus der westlichen Welt. Die meisten Geschäfte heißen „Onega“, und die Genossenschaftler kaufen im Warenhaus „Onega“ ein, wohin die Waren aus den USA, Frankreich, Deutschland und anderen westlichen Ländern direkt geliefert werden. Die Geschäfte laufen gut, gesteht Vera Nikolajewna, wenngleich sie keine Hoffnung auf eine gründliche Besserung ihrer Lage hat. „Ich arbeite hier doch eigentlich für meine Enkel. Vielleicht geht es ihnen in 50 Jahren einmal besser.“

Sie verkauft Kaugummi für einen Rubel das Stück, Zigaretten der Marke „Dunhill“ für 20 und ein Feuerzeug von Marlboro für 35 Rubel. Quarzkinderuhren kann man ebenfalls für 35 Rubel und Präservative für 3,50 Rubel kaufen. „Break the glass in emergency“ und „AIDS“ steht darauf geschrieben. Ein paar junge Leute, die es eigentlich besser wissen müßten, winken spöttisch ab. „So etwas brauchen wir nicht.“ Der Durchschnittsverdienst in der Stadt dürfte zwischen 200 und 300 Rubel monatlich liegen. Die offiziellen Angaben nähern sich eher der oberen Grenze an.

Ein promovierter Assistent an der Universität erhält etwa soviel Geld wie eine Reinemachefrau. Die Ärzte sind endlich entschlossen dazu übergegangen, ohne zusätzliche Gelder keine Patienten mehr zu behandeln, sagt mir ein Professor der Universität. Aber der aufmüpfige Geist der Umgestaltung beseelt längst nicht alle Universitätsangehörigen gleichermaßen. Die Naturwissenschaftler der namenlosen staatlichen Universität Leningrads — früher trug sie den Namen des Erzstalinisten Shdanow — erarbeiten ihr zweites Gehalt in den Laboratorien der Alma mater, und wenn sie Glück haben (und viele haben das), sind sie in militärische Forschungsprojekte eingebunden, durch die sie Sonderprämien beziehen. Wen wundert es da, daß die jungen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler, die Philologen, Literaturwissenschaftler, die Historiker und Philosophen am radikalsten auf Veränderungen drängen?

Härter als die Hippies

Auf dem Newski versuchen junge Künstler und deren Zwischenhändler zu Devisen zu kommen. Porträtmalerei, Ikonenverkäufe, nette Bildchen mit Leningrader Colorit, Collagen mit Gorbatschow- bzw. Perestroika-Karikaturen und schließlich die unverwüstlichen Matrjoschkas in kunstgewerblicher Schönheit sind hier, vor allem auf dem Ostrowski- Platz samstags und sonntags, für harte Devisen zu bekommen. Ein Renner der Saison: die Phalanx der Herrscher der Sowjetunion von Lenin bis Gorbatschow in Matrjoschka- Aufmachung. Preis: zwischen 40 und 100 DM.

In der Fußgängerunterführung in Höhe des „Gostiny dvor“ ist es eng und laut. Hier versammeln sich Tag für Tag die Punks oder auch andere jugendliche Gruppierungen. In schlechtem Englisch oder auch in Russisch Lieder singend, sammeln sie Rubel von der lauschenden Menge. „Manche verdienen hier gutes Geld“, erzählt Witja. Er sei aber bisher nur einmal aufgetreten. Witja ist ein ganz außergewöhnlicher Punker, ein melancholischer junger Mann mit sanftem Gesichtsausdruck und ungelenken Bewegungen. Schüchtern sitzt er mir gegenüber bei „Dr. Oettker, Newski 40“, einer unlängst eröffneten Gaststätte für valutakräftige Gäste. Jeden Tag sei er dort unten unter dem Newski; das sei sein Leben. Es gefalle ihm. Ja, die Punks seien härter als die Hippies, doch Schwierigkeiten haben alle. Zuhause und in der Verwandtschaft höre er ständig Vorwürfe. Aber die Kollegen auf der Arbeit seien in Ordnung. Die sagen nichts über sein Äußeres. Ideale? Nein, so etwas habe er nicht. Er lebe nur für den heutigen Tag, sagt Witja. Ob er ins Ausland wolle, weiß er nicht, aber er liebe seine Stadt. Und daß sie ohne Zukunft sei, störe ihn nicht.

Ausverkaufte Auslandszüge

Im Hotel „Moskva“ an den Schaltern für die Auslandszüge ist innerhalb einer kurzen Frist keine Fahrkarte nach Berlin zu bekommen. Seit Wochen hält der Ansturm der Wolgadeutschen, die in der Umgebung der Stadt ihre Zelte aufgestellt haben, an. Drei Wochen beträgt die Wartezeit der meist jungen Leute für eine Fahrkarte. „Probieren Sie es doch einmal beim Natschalnik, dem Chef der Fahrkartenausgabe“, rät mir einer der Wartenden. Doch dieser sitzt gerade resigniert in seinem Zimmer und denkt über die letzte Nachricht aus dem Fernen Osten der Sowjetunion nach. Dort probe man gerade den Ausnahmezustand. „Was soll ich Ihnen helfen? Bald kommen ohnehin die Militärs an die Macht, und die werden uns alle erschießen.“

Vor meinen Augen taucht ein Bild von A. Gansowski auf, das in der kleinen Galerie auf dem Alten Newski Nr. 166 für 3.500 Rubel feilgeboten wird. Zwei wundersame zarte Gestalten im „Abendlichen Gebet“ versunken, während der Widerschein der vergehenden Sonne vom Meer her die Szene beleuchtet. Ganz rechts im Hintergrund — also endgültig, unwiderruflich — geht das Licht zur Neige und läßt ein einsames Boot auf dem Meer zur Fahrt ins Nichts zurück.

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