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POSTSOZIALISMUS

■ "Riga - sag mal, liegt das nicht in Russland?"

„RIGA — SAG MAL, LIEGT DAS NICHT IN RUSSLAND?“

VONFRANKBLOHM

An der Gangway der Aeroflot-Maschine beginnt das sowjetische Reich in Gestalt der wasserstoffsuperoxydgebleichten Stewardeß mit weißen Handschuhen, gerougeten Wangen und entsetzlich gelangweilter Miene. Platzkarten? I wo. Wer zuerst kommt, sitzt am besten, ich nahe dem Notausgang. Hier sind alle gleich, keiner ist zweiter Klasse, doch nach vorn kommst du nur mit einem gut geübten Ellbogencheck: Ist das noch Sozialismus? Aus dem Lautsprecher russische Schlager, aber nur kurz, dann rieselt süßer angloamerikanischer Popschmalz heraus, bis die Tupolew abhebt und wir über den deutsch-polnisch-litauischen Wolken schweben. Die Oder, der neue stacheldrahtumsäumte Ost- West-Vorhang, bleibt unsichtbar.

Im Empfangsgebäude in Vilnius, diesem Pferdestall (R. Kibelka) mit sowjetbraunen Säulen und braunen Tischen und braunen Sesseln und braunen Teppichen, herrscht noch Moskauer Zeit. Im Bahnhof schon baltische, also eine Stunde später. Die Kellner im Restaurant sind noch Könige wie überall im Osten seit der Oktoberrevolution, mit wahrer Herrschermiene verteilen sie warme, klebrige Pepsi-Cola (was Coca für die Dritte, ist Pepsi für die Zweite Welt) und Koteletts, wenn sie nicht gerade mit Ganovengesichtern Geschäftliches verhandeln.

Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus in den Kapitalismus

Vor dem Schalter im Bahnhof begrüßen mich zwei Mädchen, wissend (woher?), daß ich nach Riga will, wollen mir eine Zugkarte verkaufen, eine aus Kauna, und alles ist so wie beim Spiel „Einheimische schlagen tumbe Touristen übers Ohr“. Ich kaufe bei den Mädchen, ungläubig aber gutwillig. Die Schaffnerin vor dem Schlafwagenabteil fuchtelt mit ihrer Taschenlampe herum, eine ganze Weile, es sieht nicht gut aus, aber ich mit meinem Rucksack, mit den Schultern zuckend — so bekomme ich ein Bett. 10 Rubel, das sind weniger als drei Mark für 350 Kilometer und sieben Stunden Schlaf, nach offiziellem Kurs gerechnet — ich muß mich an die Verhältnisse gewöhnen, denke ich mir, sie haben offenbar tatsächlich noch Sozialismus („Sozialismus ist die Übergangsphase vom Kapitalismus in den Kapitalismus“).

Ich komme im Morgengrauen auf dem Hauptbahnhof in Riga an, wie schon einmal vor acht Jahren, und genau wie damals mit einer Gruppe polnischer Restaurateure. Überall in der Altstadt versperren ihre blau- weißen Bretterzäune den Weg, und sie werden noch im nächsten Jahrtausend hier stehen, mal hier, mal dort. Riga ist eine Stadt, die unaufhörlich zerbröselt, aber auch wächst und wächst, nun schon fast auf eine Million Einwohner. Der lettische Anteil ist auf 35 Prozent geschrumpft seit dem Kriege, die übrigen sind Russen, Ukrainer, Weißrussen, Polen, Litauer, Juden, Deutsche, Tataren, Armenier, Aserbeidschaner.

Ein prokapitalistischer, da gewinnorientierter Taxifahrer bringt mich in die Vorstadt zu Alvils und Aija, meinen lettischen Gastgebern. (Wer nicht privat, sondern touristisch nach Lettland reist, wird vom Hotelleben bestraft.) Die beiden wollen am nächsten Tag aufs Land zu den Eltern, um ihnen bei der Kartoffelernte zu helfen. Wenn wir nicht Fleisch und Gemüse von den Eltern bekommen würden, wüßte ich nicht, wie wir es mit den Kindern schaffen sollen, sagt Alvils, Diplomphysiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Riga und mit 400 Rubeln Monatsverdienst zu den Besserverdienenden zählend, und so liegt er am Wochenende in den Kartoffeln, um sich Fleisch und Gemüse und frische Sahne zu verdienen.

Mit dem Vorortzug in die Stadt. Immer wieder Erstaunen über die sowjetischen Dimensionen: Der Zug ist breit genug für zwei Dreierbänke nebeneinander. Hineinzusteigen gleicht einem Turnakt. Survival of the fittest. Wo leben die Rollstuhlfahrer? Nie sah ich einen. Im Fußgängertunnel unter dem Bahnhofsvorplatz Gedrängel an einem Stand: Pornoblättchen, in Russisch. An einem anderen werden Rambos, Schwarzeneggers und blonde, nackte Mädchen als Poster für 3 Rubel angeboten. Zwei gitarrespielende Jungs singen Balladen, sehr harte und schmutzige Texte, haben sie im Knast gelernt, sagt Alvils, bei der Roten Armee (die Knäste werden militärisch verwaltet). Ist es nicht leicht, jung zu sein (Juris Podnieks)? Mit einem Mal Geschrei, zwei ältere Frauen schlagen sich, handfest, Taschen und Brillen fliegen, beide schimpfen in Russisch — Alvils ist beruhigt, daß es keine Lettinnen sind. Immer dieses feine Beobachten, welcher Nationalität der andere ist, das Taxieren, die Schlußfolgerung daraus. Von meinen lettischen Bekannten hat keiner russische Freunde (wohl solche russischer Herkunft, die sich aber lettisch assimiliert haben). Aber wer das verstehen will, muß wissen, daß die Letten sich bis vor kurzem als aussterbendes Volk fühlten. Insgesamt gibt es, Emigranten eingerechnet, keine 2 Millionen Letten, und ihr Anteil in der Sowjetrepublik Lettland sank immer mehr ab. Wer als Nichtlette einwanderte, mußte nicht einmal Lettisch lernen, Russisch dominierte — unter der Maske des Internationalismus nichts weiter als russischer Kolonialismus.

Die Schlacht um die Denkmäler ist voll im Gang

Gleich neben dem Bahnhof sind die Markthallen, ausrangierte Zeppelin- Hangars, drinnen und draußen breitet sich der Kolchosmarkt aus, ein angenehm anarchisches Vielvölkergequirle. Moldawier verkaufen direkt vom LKW Berge verstaubter Melonen, asiatische Moslems bieten geheimnisvolle Gewürze feil, gleich daneben sitzen lettische Großmütterchen vor Gurkengläsern und Blumensträußen, auf dem Kopf Hütchen aus Zeitungspapier, um sich vor der Sonne zu schützen. Zierfische zeigen sich in Aquarien von ihrer schönsten Seite, Kuschelhamster dürfen vor dem Kauf probegestreichelt werden, Zarenmünzen finden ebenso Abnehmer wie Deosprays made in France. Hier hat der Kapitalismus, mag er auch noch so bockbeinig sein, Fuß gefaßt, hier ist die Insel der Seligen und Seligmachenden, wo die Honigmelonen rollen... und, beim Hütchenspiel, die Rubelchen... , wo Betrüger und Betrogene die neue Freiheit auskosten.

Unvermeidlich führt der erste Gang zum Freiheitsdenkmal in der Freiheitsstraße, bis vor kurzem Leninstraße, vormals Adolf-Hitler- Straße. (Überall in Riga, im Baltikum überhaupt werden die Stadtpläne von 1940 wieder in Kraft gesetzt. Wohl dem, der einen hat — neue gibt es nicht.) Die Freiheitsstatue, eine „Mutter Heimat“ symbolisierende Frauengestalt in Bronze auf einem Granitsockel, wurde in der nur kurz währenden Zeit der lettischen Eigenstaatlichkeit (1919 bis 1940) errichtet. Alte Männer und junge, trachtentragende postieren mit den rot-weiß-roten lettischen Flaggen vor dem Denkmal. Polit- Folklore. Es ist der 51. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes. Gruppen von Diskutanten, viele Blumen überall. Die Schlacht um die Denkmäler ist in vollem Gange. Lenin einige hundert Meter weiter, dieser Lenin mit erhobener Hand, in der anderen die Mütze (eine der drei zugelassenen Posen), soll abgerissen werden, in der Provinz haben sie schon angefangen, auch in Rußland. Die beste Idee dazu: Alle Lenins werden in einem eigenen Museum versammelt. Was aber soll mit den lettischen Roten Schützen geschehen, die auf dem ehemaligen Rathausplatz in poliertem Granit herumstehen? Jene Roten Schützen, bolschewistische Elitesoldaten, retteten, Ironie des lettischen Schicksals, mehrfach die Oktoberrevolution, so am 6. Juli 1918, halfen aber auch, Lettland von deutschen Freikorpstruppen zu befreien. Während über den Abriß der alten noch debattiert wird, entstehen neue Denkmäler wie an der Bahnstation Tornakalns, an der ein Gedenkstein an den Abtransport Zehntausender Letten nach Sibirien im Juni 1940 erinnert. Während die Zukunft mit unglaublicher Geschwindigkeit und Wucht hereinbricht, ist die Gesellschaft mit der Vergangenheit beschäftigt, nach 50 Jahren der Okkupation auf der Suche nach sich selbst.

Kaufmännisch-nüchterner, protestantisch-deutscher Geist

Rigas Vergangenheit ist lang. Ein über-Blick ist am besten von oben zu bekommen, vom Turm der St. Petri- Kirche, 72 Meter hoch ist die Aussichtsplattform. Rings um die Kirche breitet sich die Altstadt aus, auf der einen Seite begrenzt durch die träge dahinfließende Daugava, auf der anderen durch die ehemaligen Wallanlagen, jetzt ein Park. Die Anlage der Altstadt ähnelt der der Partnerstadt Bremen, und das nicht zufällig: 1201 gründete der Bremer Bischof Albert I. („ein blutrünstiger Christenteufel“, H. Knobloch) an der Stelle eines alten lettischen Handelsplatzes die Stadt Riga. 80 Jahre später trat Riga der Hanse bei und stieg zum wichtigsten Handelsplatz in der östlichen Ostsee auf. Jahrhundertelang dominierten deutsche Kaufleute und Handwerker die Stadt, die sich wie die anderen Hansestädte sehr früh der Reformation anschloß. Der kaumännisch-nüchterne, protestantisch-deutsche Geist durchzieht die Architektur der Altstadt, so unterschiedlich die Stile, von Gotik bis Klassizismus, auch sein mögen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts stieg Riga zur drittgrößten Industriestadt im Zarenreich auf (Zar Peter I. hatte Lettland 1710 erobern lassen), die Bevölkerung war nun mehrheitlich lettisch-russisch, der deutsche Anteil sank bis zum Ersten Weltkrieg von vormals über 50 Prozent auf 13 Prozent. Zarentreu wie es war, kämpfte das deutsche Bürgertum auf seiten der russischen Armee gegen das Deutsche Reich.

Ein Audi 80 für 83 Arbeitsjahre

Zurück ins 20. Jahrhundert, in die Gegenwart, und sage keiner, die Letten nähmen sie ohne Humor. Sie haben sich je einen Stalin und einen Breschnew modelliert, aus Wachs, und die beiden in echte Autos gesetzt: den pockennarbigen Stalin in seine 8-Zylinder-ZIS-Panzerlimousine von 1949, 8 cm dickes Panzerglas (ein Sinnbild für Stalins Paranoia, die unzähligen Menschen das Leben kostete), während Breschnew etwas zusammengesackt am Steuer seines Rolls-Royce Silver Shadow sitzt, den er 1980 bei einem Unfall mit einem LKW zu Schrott fuhr — nichts könnte besser die Verschwendungssucht des Oligarchenregimes illustrieren (der zerknautschte Rolls- Royce war nur einer von vielen in der Sammlung Breschnews). Um ihre raffinierte Attacke auf den Sowjetismus zu tarnen, haben die Letten noch allerhand andere Oldtimer gesammelt und in einem totschicken, architektonisch einem Rolls-Royce-Kühlergrill nachempfundenen Museum aufgestellt. Eine besondere Variante von schwarzem Humor in Verbindung mit teutonischem Geschäftssinn bewiesen die Verkaufsleiter von VW-Audi, die die Ausstellung sponsern und drei ihrer Modelle in eine Ecke des Automobilmuseums drapierten, mit riesigen Preisschildern: „Audi 80 Diesel 19.467 $“. Sind ja umgerechnet zum Schwarzmarktkurs nur schlappe 400.000 Rubelchen, für die müßte Alvils nur 1.000 Monate, gleich 83 Jahre, arbeiten... Oder er fährt zur Kartoffelernte, nach Deutschland, illegal, versteht sich. Sagen wir: 10 Jahre lang jeden Herbst.

Nein, fahren wir lieber nicht dorthin, nach Lettland: zuviel Konfrontation mit der Geschichte, viel zu kompliziert für Schwarz-Weiß-Raster, und dann dieser Postsozialismus (oder Frühkapitalismus), oh Graus, vergessen wir das Baltikum, fahren wir lieber wieder südwärts. Nur nicht Kreta, da war die Wehrmacht —.

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