: „Es ist unerläßlich, den notwendigen Spielraum herzustellen“
■ Im Oktober verfaßte die Kultusministerkonferenz ein Drehbuch, wie die im Einigungsvertrag festgeschriebene Autonomie der Ex-DDR-Hochschulen ausgehebelt werden soll/ Es geht dabei nicht um inhaltliche Ziele, sondern um „nennenswerte quantitative Reduzierung“ DOKUMENTATION
Am 26. Oktober 1990 beriet die Arbeitsgemeinschaft „Einigungsvertrag“ der Ständigen Konferenz der Kultusminister in Berlin „die Problematik der Überführung von Hochschuleinrichtungen“ in den neuen Bundesländern. Erarbeitet wurde dabei ein Empfehlungsentwurf, der laut Protokoll darauf abzielt, „über einen Beschluß der Kultusministerkonferenz ein möglichst einheitliches Vorgehen der neuen Länder zu erreichen“. Wörtlich heißt es im Sitzungsprotokoll: „Hervorgehoben wurde die einmalige Chance, die der Einigungsvertrag den neuen Ländern mit der ,Abwicklung von Einrichtungen‘ eröffne.“ Die Kultusminister beschlossen diese Empfehlung auf ihrer Sitzung am 8./9. November. Welche Ziele, aber auch welche rechtlichen Tücken mit der Nutzung der „einmaligen Chance“ verbunden sind, mit welcher Sprache und mit welchem Rechtsverständnis deutsche Spitzenbeamte argumentieren, wird hier auszugsweise dokumentiert:
„Die neuen Länder stehen infolge der deutschen Einheit vor weitreichenden Veränderungen ihrer Hochschul- und Wissenschaftslandschaft. Der Wissenschaftsrat ist gebeten worden, eine Evaluierung aller Einrichtungen des Hochschulbereichs vorzunehmen, um die von den neuen Ländern zu treffenden Strukturentscheidungen vorzubereiten. Da das Ergebnis der Evaluierung sein könnte, daß für einige Hochschuleinrichtungen aus strukturellen Gründen kein Bedarf besteht oder daß solche Einrichtungen nicht den qualitativen Anforderungen entsprechen, da außerdem noch nicht feststeht, ob die finanzielle Lage der neuen Länder eine Weiterführung aller Einrichtungen des Hochschulbereichs ermöglicht, ist es unerläßlich, den für strukturelle Entscheidungen notwendigen Spielraum herzustellen. Dieser kann nur geschaffen werden, wenn die neuen Länder in den Fällen, in denen die Auflösung oder eine weitreichende Veränderung einer Einrichtung nicht ausgeschlossen werden kann, von der Abwicklungsalternative vorsorglich Gebrauch zu machen. Die Abwicklung einer Einrichtung hat zur Folge, daß die Einrichtung in ihrer bestehenden Form mit ihrem bisherigen Personalbestand nicht fortgeführt wird. Die Arbeitnehmer werden nicht Beschäftigte des neuen Landes. Ihre Arbeitsverhältnisse enden in 6 oder 9 Monaten.[...]
Wird eine Wissenschaftseinrichtung nicht abgewickelt, so ist sie zu überführen. Mit der Überführung ist das gesamte Personal von dem zuständigen Land übernommen; für alle Bediensteten der Einrichtung werden Arbeitsverhältnisse mit dem Land begründet. Allerdings sieht der Einigungsvertrag eine Reihe ordentlicher und außerordentlicher Kündigungstatbestände vor. Mit diesen Mitteln wird in Einzelfällen eine Verringerung des Personalbestands erreicht werden können, die Beweislast für alle maßgeblichen Umstände liegt allerdings beim Land. Ob eine nennenswerte quantitative Reduzierung auf diese Weise erreicht werden kann, ist ungewiß.[...]
Der Ministerrat der DDR hat am 18. September 1990 die Verordnung über Hochschulen (vorläufige Hochschulordnung) erlassen, die gem. Art. 3 Ziff. 33 der Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrags vom 18. 9. 1990 nach Wirksamwerden des Beitritts in Kraft bleibt. Mit der Verordnung wurde angestrebt, das bisher geltende DDR-Recht aufzuheben und weitgehend Hochschulrahmengesetz(HRG)-konformes Recht in Kraft zu setzen. Angesichts der Verhältnisse in den Hochschulen der neuen Länder bewirken die Regelungen der vorläufigen Hochschulordnung indessen, daß die gegenwärtige Situation der Hochschulen festgeschrieben und die strukturelle und personelle Erneuerung der Hochschulen verhindert würden. Insofern wäre eine Änderung der Verordnung dringend geboten.
Nachdem sich herausgestellt hat, daß der im Gesetzblatt der DDR veröffentlichte Verordnungstext in mehreren Punkten von der Vereinbarung vom 18. 9. 1990 abweicht, bestehen außerdem Zweifel am rechtsgültigen Zustandekommen der Verordnung und an ihrer Fortgeltung als Landesrecht. Die Kultusministerkonferenz empfiehlt daher den neuen Ländern, möglichst bald die vorläufige Hochschulordnung durch landesrechtliche Vorschriften zu ersetzen. Dies kann zum Beispiel durch ein Vorschaltgesetz zum Landeshochschulgesetz oder durch eine Rechtsverordnung des zuständigen Ministers erfolgen. Für letztere müßte allerdings eine Ermächtigungsgrundlage — zum Beispiel im Einführungsgesetz zur Landesverfassung — geschaffen werden.
Die Rechtssetzungen der Länder für den Hochschulbereich müssen der Tatsache Rechnung tragen, daß es die Verhältnisse in den Hochschulen der neuen Bundesländer nicht zulassen, bereits jetzt einen HRG-konformen Rechtszustand herzustellen. Dies würde dazu führen, daß in den Organen der Hochschulen die noch nach altem DDR-Recht ernannten Hochschullehrer über die Mehrheit verfügten. Die wesentlichen Entscheidungen im Autonomiebereich der Hochschulen würden also von Personen gefällt, die ihr Amt nicht im Wege der Selbstergänzung erhalten haben und die die Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtssprechung zum materiellen Hochschullehrerbegriff aufgestellt hat, in der Regel nicht erfüllen.
Im Interesse der künftigen Entwicklung der Hochschule und der Hochschulmitglieder insgesamt ist es daher erforderlich, über die nach dem HRG vorgesehen Aufsichtsmöglichkeiten hinaus, die Initiativ- und Einwirkungsrechte der zuständigen Landesminister zu erweitern.“
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