: „Die Abwicklung produziert unlösbare Konflikte“
In Leipzig sind 1.400 Universitätsangehörige vom Abwicklungsverfahren betroffen/ Abwicklung wird ohne gesetzliche Grundlage vollzogen/ Die gültige Hochschulordnung ist faktisch außer Kraft gesetzt/ Konzeptionelle Vorstellungen für die Zukunft der Universitäten fehlen ■ Aus Leipzig Götz Aly
Abwicklung heißt das neu-alte Zauberwort, wenn es um die sogenannte Erneuerung von Universitäten in der früheren DDR geht. Die sächsische Kulturbürokratie kürzte das ab. Der Einfachheit halber spricht sie vom AW-Verfahren. An der Karl-Marx- Universität Leipzig sind davon 1.400 Wissenschaftler, Sekretärinnen, Feinde und Freunde der früheren SED-Herrschaft betroffen, auch Menschen, die sich zwar für ihren Beruf, aber eben nicht besonders für die Art der politischen Herrschaft interessieren. Während 1.400 Universitätsangehörige jenseits des Arbeitsrechts mittels hektographierter Briefe abgewickelt werden, Leute auch, die dreißig Jahre und länger der Universität dienten, wird gleichzeitig den StudentInnen vorgemacht, sie könnten ihr jeweiliges Studium quasi ungestört zu Ende führen. Fragt sich nur, mit wem. Der sächsische Wissenschaftsminister Hans- Joachim Meyer ist zwar in der Lage, Abwicklungsbeschlüsse zu unterschreiben, aber die Frage, wie es konkret und konzeptionell an den Hochschulen des Freistaates weitergehen soll, löst bei ihm allenfalls Gedankenflucht aus.
Gesetzliche Grundlagen gibt es für das Abwicklungsverfahren nicht. Dem sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, der in seiner Regierungserklärung vollmundig den gemeinsamen „Aufbruch in die Demokratie“ ankündigte, reichte dafür ein einfacher Kabinettsbeschluß vom 12. Dezember. Tonlage: „Die in der Anlage genannten Einrichtungen werden abgewickelt...Für Studienprogramme werden kommissarische Direktoren eingesetzt...Umberufungen können durch den Staatsminister erfolgen.“ Begriffe wie Hochschulautonomie oder Freiheit von Lehre und Forschung kennt diese Sprache nicht. Selbstverständlich dienen diese Begriffe einer Reihe von Hochschullehrern, die in Leipzig in ihrer übergroßen Mehrheit Mitglieder der SED waren, auch als Unterschlupf — aber können sie nur deshalb aus dem Wortschatz getilgt werden?
Von der Abwicklungsprozedur betroffen sind insbesondere die Sozialwissenschaften, in Leipzig die Wirtschafts- und die rechtswissenschaftliche Sektion, die Sektionen Philosophie, Journalistik und Soziologie (vor der Wende: „Wissenschaftlicher Kommunismus“), darüber hinaus einige Institute und Abteilungen — zum Beispiel: Geschichte der KPdSU, Geschichte der SED, Grundlagen der nationalen Befreiungsbewegungen, die Grundlagen der Pädagogik ebenso wie das Institut für Literatur „J.R.Becher“. Völlig verschont vom Abwicklungsverfahren bleiben die Naturwissenschaften. Selbst die in Sachsen zahlreichen Institute für Militärmedizin bleiben — sie nennen sich nun Institute für Katastrophenmedizin...
Diese Vorgehensweise des Ministeriums führt zu einer tiefen Kluft zwischen den einzelnen Sektionen, sie verstärkt jene unselige Tradition, die Wolfgang Ullmann am Montag im Innenhof der Universität so bezeichnete: „Wenn die deutsche Universität an einer Krankheit leidet, dann ist es der Dualismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften!“ Denn es steht außer Frage, daß in allen Einrichtungen der Universität Parteiprotektionismus und opportunistische Mittelmäßigkeit in mehr oder weniger großem Umfang ihren Platz hatten und daß jede Sektion Gründe genug finden könnte, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sieben Professoren der Medizin und ein Bio-Wissenschaftler blieben zum Beispiel einfach auf ihren Posten sitzen, obwohl ihnen Studenten und Kollegen mehrheitlich das Mißtrauen ausgesprochen hatten.
Abwicklung gilt als vollzogen
Inzwischen, nach Hungerstreik, Protesten und den fortdauernden Rektoratsbesetzungen in Leipzig, bläst man in Dresden zum taktischen Rückzug: Statt einer vom Wissenschaftsminister für Dienstag versprochenen Durchführungsverordnung zum Abwicklungsbeschluß des Kabinetts (die braucht nun plötzlich den parlamentarischen Segen und wird daher den Ausschüssen zugeleitet) schickte Meyer immerhin einen Brief an den Rektor der Leipziger Universität. Tonlage: „Direktoren werden unter Berücksichtigung von Vorschlägen wissenschaftlicher Gremien berufen, beziehungsweise bestätigt... Die bisherigen Überlegungen, Pläne und Konzeptionen zur Erneuerung sollen Berücksichtigung finden.“ Rechtsverbindlichkeit hat dieser Brief nicht. Der verbindlichere Ton täuscht über den harten Kern: Zwar verzichtet der Brief des sächsischen Wissenschaftsministers auf das unschöne Wort „Abwicklung“ — aber nur dehalb, weil dieser Akt als bereits vollzogen vorausgesetzt wird. Der Minister schreibt einfach von bereits „aufgelösten Einrichtungen“.
Das Plenum der Leipziger Studentenschaft — gekommen waren etwa 400 von 12.000 Immatrikulierten — beschloß am späten Dienstag abend, die Besetzung der Rektoratsetage fortzuführen und Informationskampagnen in den nicht von der Abwicklung betroffenen Sektionen zu beginnen. Für die Zeit um den 16.Januar ist eine Fahrradwanderung nach Berlin vorgesehen, gewissermaßen als etwas bequemere Revanche für den Fußmarsch der Berliner Studenten nach Leipzig, der dort am Montag dieser Woche geendet hatte.
„Wie kann es sein“, fragt ein älterer Theologieprofessor im Vorbeigehen, „daß zwei promovierte Juristen, nämlich Schäuble und Krause, einen derart schlechten Vertrag machen und den Universitäten mitten im Semester ,Abwicklung‘ und Neuorganisation zumuten? Jeder einigermaßen denkende Mensch würde sich doch am Rhythmus der Semester orientieren!“
Was dem Theologen als schiere Unbedachtheit aufstößt, hat seine Gründe: Am 18. September 1990 erließ die DDR-Regierung eine Vorläufige Hochschulordnung. Nach dem Einigungsvertrag ist sie noch drei Jahre gültig, und daher waren auch die Bonner Kulturbürokraten seinerzeit schon an der Ausarbeitung beteiligt. Die Hochschulordnung trägt die Unterschrift des damaligen DDR-Hochschulministers Hans-Joachim Meyer, des Mannes also, der nun als oberster Dresdener Abwicklungsexekutor fungiert. Ziel der Hochschulordnung war es, Rechtsgrundlagen für die Übergangszeit zu schaffen. Die Hochschulen der untergehenden DDR sollten nach dem Bonner Willen von einigen Segnungen des westdeutschen Hochschulrahmengesetzes ausgenommen und im Laufe von etwa drei Jahren umstrukturiert werden.
Am 26. September wurde die Hochschulordnung in der letzten Ausgabe des Gesetzblattes der DDR veröffentlicht. Sie ist weiterhin geltendes Recht und entspricht für die fünf neuen Bundesländer dem Hochschulrahmengesetz. Im Paragraphen52 dieser Hochschulordnung heißt es über die „Abberufung hauptamtlich tätiger Hochschullehrer“ klipp und klar: „Bei einer notwendigen Veränderung des Berufungsgebietes im Fall einer grundsätzlichen Veränderung des wissenschaftlichen Inhalts des zu vertretenden Gebietes entscheidet die Sachkompetenz des Hochschullehrers über das Verbleiben auf der jeweiligen Stelle. Den notwendigen Wegfall eines Berufungsgebietes und notwendige Veränderungen des Berufungsgebietes hat die Hochschule nach Beratung in der betreffenden Fakultät und im Senat beim Minister für jeden einzelnen Fall zu beantragen.“
Dies bedeutet, daß in jedem einzelnen Fall von Kündigung nachgedacht, begründet und entschieden werden müßte. Die Hochschulordnung garantiert im übrigen die Selbstverwaltung (§82 folgende) und die „Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung, Lehre und Studium“ (§3). Die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten sind beschränkt. Bei der „Errichtung, Änderung und Aufhebung von Fachbereichen“ ist „ein Zusammenwirken von Hochschule und zuständigem Ministerium“ vorgesehen (§82).
„Vorsorglicher Gebrauch der Abwicklung“
All das ist Bestandteil des Einigungsvertrages. In der Sitzung vom 26.Oktober beschäftigte sich die Arbeitsgruppe „Einigungsvertrag“ der Kultusministerkonferenz mit diesem Gesetz und der Rechtslage (siehe Dokumentation). Man verständigte sich darauf, das nach dem Einigungsvertrag geltende Recht mittels „Abwicklungsverfahren“ und sogenannten „Hochschulerneuerungsgesetzen“ nun zu unterlaufen und zu revidieren.
Es kommt der Kultusministerkonferenz darauf an, von der „Abwicklungsalternative vorsorglich Gebrauch zu machen“, um den „für strukturelle Entscheidungen notwendigen Spielraum herzustellen“. Das allerdings nur bis zum 2. Januar erlaubte Abwicklungsverfahren bot dazu — so die Kultusministerkonferenz — eine „einmalige Chance“. Daher die Eile, über die sich der Theologe so wundert. Daher die besondere Unglaubwürdigkeit des Wissenschaftsministers Meyer, der sein eigenes in der demokratisierten DDR erlassenes Hochschulgesetz nun auf kaltem Weg zu umgehen sucht und über ein bereits angekündigtes „Hochschulerneuerungsgesetz“ liquidieren will. Die entscheidenden Fehler wurden zweifelsohne in Bonn gemacht. Denn kaum, daß der Einigungsvertrag Rechtskraft hatte, sollten die für die Universitäten der ehemaligen DDR gültigen Bestimmungen wieder zurückgenommen werden. Aber niemand zwingt die Regierung Biedenkopf, die Folgen dieser juristischen und politischen Fehler nun in dieser Form auf dem Rücken der Hochschulangehörigen abzuwickeln. Die überhasteten exekutiven Schritte tragen notwendigerweise das Stigma der Willkür, sie machen das so gern mißbrauchte Wort „Erneuerung“ endgültig zum Synonym einer rechtsstaatlich nicht legitimierten Maßnahmenpolitik.
Im Ergebnis führt dieses überstürzte Vorgehen zu einer tiefen Depression unter denjenigen, die von der Abwicklungskeule getroffen sind. Weil nicht individuell entschieden wird, fühlen sich alle gleichermaßen ungerecht behandelt, auch diejenigen, die allen Grund hätten, die Universität eher heute als morgen zu verlassen.
Peer Pasternack — einer der Sprecher der Leipziger Studentenschaft — sagt: „Entscheidend ist, daß individuell verfahren wird. Entlassungen sind notwendig, und ich halte es für illusorisch, daß es die Sektionen aus sich heraus schaffen. Deshalb haben wir immer Kommissionen gefordert, in denen auch Westvertreter sitzen. Aber ein menschlich anständiges Verfahren muß sich an für jedermann nachvollziehbaren Kriterien orientieren. Für die Bewertung dessen, was hier in den letzten Jahren getan wurde, muß aber die Kenntnis einfließen, unter welchen Bedingungen jeder einzelne hier gearbeitet hat. Das erscheint mir auch für diejenigen wichtig, die dann rausgeschmissen werden, weil sie nur so erkennen können, daß in dem zweifelsohne schwer zu verarbeitenden Rauswurf für sie auch eine Chance liegt.“
Sonja Brentjes, Arabistin und Mathematikerin und von der Abwicklung nicht betroffen, formuliert als eine der SprecherInnen des akademischen Mittelbaus: „Die jetzige Situation der Abwicklung produziert unlösbare Konflikte. Der Zeitdruck macht schon den Versuch unmöglich, die Probleme einigermaßen sauber zu lösen. Durch die Regierungspolitik ist ein Chaos entstanden, das schwer beherrschbar ist, das vernünftige Argumente untergehen läßt. Es geht hier im Moment nicht um eine wirkliche Neugründung der Universität, sondern um das hektische Durchlaufen irgendwelcher tatsächlicher oder vermeintlicher Minimalstandards.“
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