: Florence Nightingale—eine verordnete Biographie
Eine höhere Tochter entdeckt ihre Berufung/ Gegen hartnäckigsten Widerstand von Familie und Gesellschaft beschließt Florence Nightingale, dem Schicksal einer Frau ihrer Klasse zu entfliehen/ Nach 15jährigem Kampf kann sie ihren Willen durchsetzen/ Die Lady auf dem Weg zum Mythos ■ Von Uta Rüge
Legenden lassen Geschichte verschwinden und saugen Personen auf, indem sie alles an ihnen zur Bedeutung für andere machen. Der Fall Florence Nightingale ist dabei nicht nur der Fall der unübersehbaren Literatur über sie und von ihr. Er ist vor allem der Fall ihres Landes im 19.Jahrhundert, des britischen Empire im Zeitalter seiner Blüte und seines beginnenden Niedergangs.
Florence Nightingale ist in diesem Schlachtengemälde weder nur die legendäre „Lady with the Lamp“, noch ist sie ausschließlich die notorische graue Eminenz im Hintergrund, die ihre Popularität für Reformen des Gesundheitswesens benutzte. Sondern sie ist mitsamt Legende und Legendenkritik Ausdruck und Symptom einer großen Maschinerie, deren Machinationen ebenso unüberschaubar und endlos sind wie das Empire selbst, wie die Maschine des imperialen Krieges und die der Reform. So unrekonstruierbar, wie die Manipulationsgeschäftigkeit ist, die mit der Tätigkeit dieser Maschinen und ihrem ständigen Zusammenbruch einhergeht, so unmöglich ist auch das Werk der Geschichtsschreibung, da schon im Prozeß seines Zustandekommens gefälscht wurde.
„Die Geschichte der viktorianischen Ära“, warnte Lytton Strachey 1918 im Vorwort seiner Essaysammlung Eminent Victorians, „wird nie geschrieben werden: wir wissen zuviel über sie.“ — Selbst für die Demarkationslinie zwischen männlicher und weiblicher Geschichtserfahrung scheint dies noch zu gelten. Denn in diesem englischen 19.Jahrhundert legt sie sich nieder als das, was als Verstrickung von humanitärer Ideologie und weiblicher Emanzipation auf uns gekommen ist.
Der Krieg brachte die Legende hervor
„Mit dem Aussprechen der Wahrheit ist das ein viel schwierigeres Ding“, schreibt Florence Nightingale in ihren Anmerkungen zur Krankenpflege, „als man gemeinhin glaubt. Es gibt darin den einfachen Mangel an Beobachtung sowie den zusammengesetzten — das heißt zusammengesetzt mit der Fähigkeit zur Phantasie... Das zur Kenntnis Gebrachte ist im ersten Fall nur mangelhaft. Im zweiten Fall ist es sehr viel gefährlicher. Im ersten Fall gibt einer auf die Frage nach etwas, das sich vielleicht jahrelang vor seinen Augen abgespielt hat, eine Antwort, die völlig unvollständig ist, oder er sagt, daß er es nicht wüßte. Er hat nie beobachtet...
Im zweiten Fall hat einer ein wenig beobachtet, aber die Phantasie springt sofort ein und er beschreibt das Ganze aus seiner bloßen Vorstellung... Das ist, was am häufigsten geschieht. Solche Menschen nehmen nicht einmal wahr, daß sie nicht wahrgenommen haben und erinnern sich nicht, daß sie vergessen haben.“ Das Aussprechen der Wahrheit, von dem hier die Rede ist, meint die Antwort auf die Frage „Wie geht es den Kranken?“ oder alle anderen daraus sich ergebenden Fragen wie „Hat er Fieber, gut gegessen, geschlafen, hat er Schmerzen?“
Man kann es nicht wissen, sagt Florence Nightingale, ohne Beobachtung, denn auch die Antwort des Kranken kann nur relativ sein, das heißt relativ zu dem, wie er selber ist: apathisch, schüchtern oder geduldig, verzweifelt, cholerisch oder schlechter Laune. Und auch das kann zusammenhängen mit den unangemessenen Bedingungen, denen er im Krankenzimmer und durch seine Betreuer ausgesetzt ist. Erst die ständige Herstellung der besten Bedingungen macht seinen Zustand beurteilbar.
Für die besten Bedingungen stellt sie grundsätzliche Forderungen: genug frische Luft und gleichzeitig Wärme, kein Lärm — besonders aber keine geflüsterten Gespräche in Hörweite des Kranken, Sauberkeit im Krankenzimmer, gelüftete Betten, angemessene Krankenkost, aber auch Blumen und Bilder, die Verläßlichkeit der Pflegenden und das Unterlassen unerbetener Ratschläge. In die Welt des Kranken sich zu versetzen, in der alles nur geschieht, was dem eigenen Körper geschieht, und die Gedanken festgehalten sind im Mikrokosmos von Bett und dem Blickradius aus ihm heraus, ist für sie eine nüchtern und unsentimental vorgetragene Notwendigkeit, — erste Bedingung der Krankenpflege.
Mit ihrer Aufmerksamkeit, für die keine Kleinigkeit zu klein ist — nicht das rasche Entleeren der Bettpfanne, das Herausbringen ungegessener Nahrung, ein zu dickes oder zu dünnes Kopfkissen, der Blick des Kranken auf die immergleiche Wand anstatt aus dem Fenster und möglichst auf einen Baum, seine wechselnden Bedürfnisse nach Ruhe und Ablenkung —, kreiert sie eine Welt, in die keine Störung einbrechen und nichts mehr ablenken kann von diesem einen Einzelnen, seinem Dasein mit einem Körper, der nicht mehr Quelle von Lust, sondern zur Qual geworden ist. Sie kreiert diese Welt — ihre Sprache macht es deutlich genug — für den Kranken, den Mann also, der es ohnehin immer schon bekommt von dem weiblichen Personal um ihn herum, von Mutter und Schwester, Ehefrau und Tochter, die für sein leibliches und seelisches Wohl sorgen, und der offenbar weder im kleinen noch im großen die Aufmerksamkeit dafür aufbringen und es für sich selbst, geschweige für andere herstellen kann.
Die Sorge um den Körper, wenn die Lust des Krieges vorbei ist
Die für Florence Nightingales Karriere wichtigsten, entscheidenden Patienten waren in der Tat Männer, die britischen Soldaten des Krimkrieges nämlich, die verwundet und verdreckt, fiebrig und sterbend nach den Schlachten von Balaclava und Inkermann (1854) im Krankenhaus von Scutari zu Tausenden angelandet wurden.
Diesen Männern gab sie das, was sie selbst und ihre Offiziere in den Krieg nicht mitgenommen hatten — die Sorge um den Körper, wenn die Lust des Krieges vorbei ist, und er nur noch an Kleinigkeiten hängt. Nicht um Waffen und Munition, um Uniformen und Fahnen geht es dann mehr, sondern um Decken und Kochgeschirr, Löffel und Hemden, Stumpfkissen, Wundbinden, Bettpfannen, Waschzuber und Seife und Eimer und Besen.
Man hatte in diesem Krieg, der zum ersten Stellungskrieg der Geschichte werden sollte, an einen schnellen und sicheren Sieg gedacht und nicht genug an die Zeit, die es kosten könnte, an das Wetter, die Bedingungen, die man antrifft, „wenn fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“, nicht genug an die Körper der die Kriegsmaschine bildenden Soldaten, — und besonders nicht an die Verwundbarkeit dieser Menschenkörper durch Krieg und Krankheit.
Die später zum Skandal erklärte Tatsache, daß die ohnehin geringen Nachschübe auf den Transporten steckenblieben, in Schlamm, Inkompetenz und türkischen Zollhäusern versackten, wurde später in vielen dicken Kommissionsberichten und regierungsamtlichen Blaubüchern eingeräumt. Dabei wurden jedoch die offiziellen Eingeständnisse des Versagens, für deren Zustandekommen Florence Nightingale später zusammen mit anderen sorgen würde, zu schöngefärbten Berichten, deren Ergebnisse nicht zu viele militärische und Verwaltungskarrieren kosten sollte. Schließlich ging es nur um die Kosten eines Sieges, den die Westmächte — Frankreich und Großbritannien vor allem — sich gegen eine drohende russische Übernahme des zerbrechenden osmanischen Reiches durch ihre Soldaten hatten erfechten lassen.
Dieser Krieg war es, der die Legende von Florence Nightingale hervorbrachte, eine Legende, die, wie jede sagenhafte Begebenheit, sich bildet aus dem Resentiment gegen die Herrschenden und der Treue zu ihnen.
Denn Florence Nightingale war nicht etwa eine von ihnen, das heißt von denen, die mit ihren Körpern und Leben die Maschinerie der Fabrik und des Krieges — wie es gerade kommt — antreiben, und die in ihr zugrundegehen, ohne viel mehr von der Welt gesehen zu haben als solche Schlachtplätze. Sie gehörte nicht zu denen, die bei dem Anblick einer wohltätigen Dame der Gesellschaft und unter ihrem freundlichen Blick in Tränen und Rührung vergehen, weil eine nie vermutete, nie zu fordernde, nie erlebte Freundlichkeit den Schmerz ihres ganzen Lebens aufblitzen läßt. Und die deshalb nie müde werden, von diesem einen Augenblick zu sprechen, vervielfacht, inbrünstig, wie von einem Wunder, das es in ihren Augen auch sein muß, — und das die, um die es dabei geht, zu einem himmlischen Wesen macht: Florence Nightingale, „the Lady with the Lamp“, der Engel, dessen Schatten man küßt.
Der viktorianische Gott und Vater
Miss Nightingale hatte in ihrem Leben — sie war bei ihrem Einsatz in Scutari 35 Jahre alt — ganz andere Dinge schon gesehen, nämlich das, was einer höheren Tochter dieser Zeit zustand. Reisen in Italien, Frankreich, Ägypten und Griechenland zum Beispiel hatten sie in die Museen und Opernhäuser, in die Ballsäle und Kurorte der gebildeten Gesellschaft geführt. Ihr Vater hatte ihr Griechisch und Latein beigebracht und ihre Mutter sie in die sittlichen Werte des Stickens, Tanzens und in die Kunst der Konversation eingeübt. Sie tanzte und stickte und konversierte brillant und wäre zudem eine glänzende Partie für die Gentlemen ihrer Klasse gewesen: eine reiche, schöne und gebildete Frau.
Aber es gab da offenbar auch noch etwas anderes: die störende und beglückende Gabe der Wahrnehmung, eine Wachheit und Intelligenz, die den organisierten Taumel des Klassenglücks als die Falle erkannte, die er war, als Kanalisierung aller Energie in das den Frauen dieser Kreise verordnete Verkörpern, im buchstäblichsten Sinne, einer Kontinuität des Besitzes — durch Fortpflanzung, Gebären der männlichen Erben. Zum Glück gab es auch noch einen Gott, den viktorianischen, der ihr Vorhaltungen machte: gab es nicht auch das Unglück all der Elenden auf dieser Welt? Wie konnte sie zufrieden sein mit dem Leben einer feinen Dame, wenn nebenan in den Häusern der Armen Elend und Krankeheit herrschten?
Sie war 17 Jahre alt, als Gott sie auserwählte. Nur zu was er sie berufen hatte, das war ihr einigermaßen unklar. Doch von diesem Zeitpunkt an war es ausgemacht, daß sie das ihr zugedachte Leben nicht einfach so führen konnte, nicht sollte, nicht durfte und nicht wollte.
Sie hätte natürlich schriftstellern können, wie es viele Frauen der gebildeten Schicht damals für sich entdeckten — wie Mary Ann Evans, die dann unter ihrem männlichen Pseudonym George Eliot berühmt wurde, oder wie es später auch Florence Schwester Parthenope mit geringerem Erfolg tat, nachdem sie gut verheiratet war und anfing, sich zu langweilen. Oder sie könnte Gouvernante werden, was zwar weit unter ihrem Stand lag — und erst für ärmliche Pfarrerstöchter wie die Bronte- Schwestern begann, in Frage zu kommen —, aber aus dem Nichtstandesgemäßen einer Beschäftigung hat sie sich ohnehin nichts gemacht, im Gegenteil. Denn Krankenpflege wurde damals, soweit sie öffentlich war, von arbeitslosen Krüppeln und Trinkern ausgeübt, und die Frauen unter ihnen verdienten sich in vielen Fällen ein Zubrot durch Prostitution.
Es ging der in die pausenlosen Vergnügungen ihrer Klasse Verstrickten aber um die „Nahrung der Realität“, um ein Lebendigsein, das sich mit Widersprüchen und Kämpfen verbindet, mit den Gerüchen und dem Dreck einer anderen Wirklichkeit, als sie im enggeschnürten Daseinskorsett ihrer Klasse und ihres Geschlechts erfahrbar war. Wenigstens erregten ihre ausschweifenden Besuche bei den Kranken der ärmlichen Häusler des Dorfes — wohltätiger Zeitvertreib par excellence für höhere Landtöchter der Zeit — genügend Abwehr und hochgezogene Augenbrauen.
Da gab es also etwas, was ihr nicht zustehen sollte, ein „wirkliches Problem des Lebens“, von dessen tätiger Lösung sie ausgeschlossen sein sollte. Als Frau, und vor allem als verheiratete Frau, würde ihr immer nur ein Besuch in dieser Wirklichkeit zustehen, beladen mit Tee und Gebäck und einem desinteressierten Blick, der hinter mildem Lächeln zu verbergen war und im Geiste schon längst wieder auf die neuen Schnittmuster für die nächste Saison in London gerichtet sein müßte.
Die Eltern waren entsetzt
Vielleicht also hatte Gott sie zur Krankenpflege berufen? Ihre Eltern waren entsetzt. Das war ja kein schlechtes Zeichen: Florence versteifte sich und wurde immer hartnäckiger. Außerdem machte ihr das Pflegen Spaß: ein bißchen Herrschen, so wie es im Krankenzimmer all der irgendwann einmal erkrankenden Verwandten, die sie natürlich pflegen durfte — sogar mußte — möglich war, das Beherrschen einer Situation, etwas wirklich tun und bewirken war ganz nach ihrem Sinn; es befreite sie und war gottgefällig. Sie biß sich hieran fest und wurde heimlich zur scharfen Kritikerin auch ihrer Eltern. Denn was taten die schon?
„Mein Vater ist ein Mann, der nie gewußt hat, was Kämpfen ist“, schreibt sie in einer privaten Notiz. „Gute Anlagen von Kindheit an — und nie durch die Umstände gezwungen, sich mit etwas näher zu bechäftigen und es auszuführen. [...]
Er hat nicht genug zu tun — er hat nicht genug, womit seine Fähigkeiten in Anspruch genommen sind — wenn ich sehe, wie er sein Frühstück ißt, als hinge das Wohlergehen einer Nation davon ab, daß er fertig wird; wie er mit seinem Teller im Zimmer umherrennt, entzückt darüber, in Eile zu sein; sich selbst vormacht — Woche um Woche —, er führe nach Buxton oder sonstwohin, damit er in gerechtfertigter Hektik schwelgen kann. Dann sage ich mir, wie glücklich dieser Mann wäre mit einer Fabrik unter seiner Aufsicht — mit 200 oder 300 Menschen, um die er sich kümmern muß.
Meine Mutter ist ein Genie. Sie hat diesen genialen Sinn fürs Organisieren, Platz zu schaffen, eine Gemeinde auf Vordermann zu bringen, eine Gesellschaft zu gestalten... und hat doch nie den Mangel wirklichen Einflusses verspürt. Sie ist nicht glücklich.“
Fast fünfzehn Jahre lang wird Florence kämpfen müssen, um freizukommen von der ihr durch die Familie und ihren gesellschaftlichen Status des Rentier-Daseins zugewiesenen Rolle.
Aus den feinen Salons und Ballsälen von Paris, Rom und Berlin stiehlt sie sich fort und besucht so in ganz Europa Krankenhäuser, bleibt einige Wochen in einer Institution reformierter Krankenpflege in Kaiserswerth am Rhein und spielt mit dem Gedanken, katholisch und Ordensschwester zu werden. Zu Hause, früh morgens und spät abends, wenn im Herrenhaus der Parcours der töchterlichen Pflicht — mit Sticken, Besuche machen und Empfangen, mit der Kutsche ausfahren und die Mahlzeiten als Krönung des Familientages zelebrieren — noch nicht begonnen hat oder schon überwunden ist, liest und exzerpiert sie sämtliches Material über Pflegeinstitutionen und Hospitäler, Regierungsberichte und Statistiken, die sie sich heimlich durch die Lords und Ladies der Reformbewegungen besorgen läßt.
Tagträume, Apathie, Schlaflosigkeit
Sie hat, das ist klar, etwas vor. Aber die hysterischen Anfälle von Schwester und Mutter, mit denen sie unter Druck gesetzt wird, endlich kleinbeizugeben, haben dazu beigetragen, daß ihr jetzt nicht nur „die Gesellschaft“ als Schicksal bedrohlich erscheint, sondern auch der Wunsch, ihr zu entkommen. Sie hat Angst vor dem Bruch und schreibt aus Kaiserswerth: „Gebt mir Zeit, glaubt mir, helft mir. Ich ertrage es nicht, euch Sorgen zu machen.“
Eine Antwort darauf erhält sie nicht, denn Mutter und Schwester haben sehr gut begriffen, welch unerträglicher Angriff, welch beißende Kritik an ihrem, dem weiblichen Leben der Herrscherkaste sich hinter Florences Wunsch verbergen, und besonders bei Parthe steigern sich Wut und Angst vor dem Verlust der dominanten Schwester immer wieder bis zur psychischen Krankheit.
Es zeigt sich, daß sie in dieser Situation Krankheit und Zusammenbruch schon längst als eigentliche Wahrheit, wirkliche Wirklichkeit sieht. An den Reverend Henry Manning — den späteren Kardinal — schreibt sie: „Sie haben mich gefragt, ob ich dies vorausgesehen habe. Oh! Lange, lange schreckliche Jahre hindurch habe ich es erwartet, so daß es fast eine Erlösung ist, daß es endlich geschieht.“ Über ihre Schwester und Mutter schreibt sie, „sie fahren fort, bestellen ihre Wintergarderobe und bereiten ihre Herbstparties vor, als hinge kein schreckliches Schicksal über ihnen. Sie sind wie Kinder, die am Ufer des 18.Jahrhunderts spielen.“
Auch ihr eigenes Dasein diagnostiziert sie als Krankheit; und tatsächlich ist es ein bis zu psychosomatischem Ausdruck gesteigertes Leiden am Nicht-sein-Dürfen wie sie ist. Tagträume, Apathie, Schlaflosigkeit, Nicht-essen-Können — die Speise der Realität, nach der sie verlangt, wird ihr ja doch verweigert — und das schlechte Gewissen, undankbar zu sein, in der Schuld ihrer Eltern und eines Verehrers, dem sie nach neunjähriger Wartezeit schließlich die Ehe verweigert, haben auch sie an den Rand getrieben.
Die Zeiten, in denen sie sich darüber empören konnte, daß Frauen wie „ein Möbel- oder Kleidungsstück für die Eitelkeit von Männern“ vernutzt werden, sind lange schon vorbei. Ihre Abrechnung damit hat sie 1852 unter dem Titel Cassandra heimlich schon geschrieben und ihr Urteil, das sie nie wieder aufgeben wird, zusammengefaßt mit den Worten „...ich kenne nichts, was der kleinlichen und zermürbenden Tyrannei einer guten englischen Familie gleichkommt“.
Jetzt wartet sie nur noch — auf Katastrophe oder Rettung. Und die Rettung kommt. Der Herr des Hauses, dessen gesellschaftlicher Status — ob „liberal von Natur“ oder nicht — diese Tyrannei der familiären Liebe und „weiblichen Geistesschwäche“ erst hervorbringt, hat schließlich genug von den endlosen Hysterien und weiblichen Katastrophen unter seinem Dach. Er gibt nach. Florence' Vater, der auf das Ansinnen seiner brillianten und hartnäckigen Lieblingstochter, sich etwas so Niedrigem wie der Krankenpflege verschreiben zu wollen, mit Rückzug und Abkehr reagiert hatte, setzt ihr ein jährliches Einkommen aus: 500 Pfund ist ihm der häusliche Friede wert.
Florence zieht aus und geht nach London. An ihrem Auftreten wird wohl auch vorher kaum die am Abgrund des Wahnsinns stehende, unterdrückte Tochter sichtbar gewesen sein —, und jetzt ist sie erst recht und ganz unbestreitbar Mitglied ihrer Klasse, die gebildete, willensstarke und mit ausgezeichneten Beziehungen versehene Lady. Selbtsbewußt verhandelt sie um die Bedingungen, unter denen sie die Leitung eines Pflegeheimes für Frauen — die durch Alter, Armut und Krankheit gesellschaftlich ausgegrenzt sind — leiten wird und nimmt sich eine Wohnung in der Nähe ihres neuen, ihres ersten Arbeitsplatzes.
Und sie beginnt zu herrschen. Endlich kann sie ihrer „Berufung durch Gott“, ihrem Ehrgeiz, ihrem Willen zur Ausübung eines Berufes, der Sinn für Realität verlangt, nachgehen. Endlich setzt einmal sie die Bedingungen, fordert die Verbesserung des Hygienestandards, der Krankenkost, des Personals und der Arbeitsorganisation. Ihre per Status und Vertrag unhinterfragbare Dominanz, die Einsichtigkeit ihrer Forderungen — schließlich gesteht sie diesen „öffentlichen“ Kranken nur zu, was den zu Hause gepflegten Reichen immer schon selbstverständlich war — führen zu leeren Kassen und dem Abwandern von Personal.
Für die nämlich bedeutet die Gründlichkeit und Sachlichkeit ihres Zugangs zur Pflege, ihr Besserwissen und ihr unbestreitbarer Überblick eine Störung alter Gewohnheiten. Denn tatsächlich ist Florence Nightingale etwas Besonderes: eine Frau ihrer Klasse hat sich in die praktischen Niederungen solcher Arbeit vorher noch nicht begeben. Ihre Fähigkeit zu Beobachtung und Abstraktion, der statistische, durchaus unpersönliche Blick auf das Ausgeliefertsein der Schutz- und Machtlosen an die von anderen gesetzten Bedingungen wird Florence Nightingale zur Reformerin machen. Und nur, als Gesellschaft und Familie sie mit erstickender Liebe — und maßlosem Stolz auf die Heldin der Krim — wieder mit Normalität und Alltag zu umarmen drohen, wird sie sich der auf eine tiefere Schicht abgesunkenen Erfahrung ihrer eigenen Ohmacht wieder erinnern.
Das Element des Weiblichen
Männer wurden und blieben für Florence Nightingale das, was sie auf der Krim für sie geworden waren: hilflose Krieger. Daß Männer überhaupt Soldaten sein müssen und Kriege führen, war nichts, was sie in Frage gestellt hätte. Genausogut hätte sie die Monarchie und das Empire Großbritanniens in Frage stellen können —, und nichts lag ihr ferner als das. Vielmehr war Queen Victoria und ihr Empire eine Gottesgabe an die „Völker und Rassen der Welt“, deren Zivilisation den Briten aufgetragen war. Und Zivilisation, so sah es damals nicht nur Florence Nightingale, war vor allem Hygiene, die den widerspenstigen Eingeborenen beigebracht werden mußte, ein Ausrottungsfeldzug gegen Aberglauben und Dreck: the white man's burden.
Queen Victoria hatte es in ihrer unvergleichlichen Art einmal so gesagt: „Wären da nicht die Hitze und die Insekten, wie gern würde ich mir einmal Indien anschauen, dieses so üppige Land voller Reichtümer, das, da bin ich mir ganz sicher, eines Tages zur Zivilisation bestimmt sein wird.“
Hitze und Insekten, überhaupt jegliche Art von fremdem Klima und der zu ihm gehörenden anderen Nahrung war es, worunter die Soldaten des Empire so schrecklich litten. Ihre Präsenz aber und manchmal auch militärisches Eingreifen (Sudan, Afghanistan, Jamaika, Irland, Indien...) war leider nun einmal nötig. Während die gebildete Offiziers- und Beamtenschicht der Kolonialmacht überall und möglichst unterschiedslos ihr Clubland errichtete und sich mit Golf, Kricket, Polo und Tennis die Zeit vertrieb, hingen die gemeinen Truppen nach der täglichen Idiotie des Drills in überfüllten Unterkünften herum und setzten sich dem aus, was das Land den Soldaten, — oder die Soldaten dem Land — offenbar überall nur zu bieten haben: Suff, Frauen und Prügelei, und daneben vielleicht noch die eine oder andere einheimische Droge und auch Krankheit. Das alles sollte später zum Interesse für Miss Nightingale werden. Ihre dafür grundlegende Erfahrung jedoch sollte sie erst einmal in der Türkei machen.
Im Unterschied zu anderen Gegenden in Afrika und Asien mußte an den Bosposus 1854 alles geschifft werden, was zum Kriegführen nötig ist: Männer und Material, Verpflegung und Transportmittel. Nach dem zwanzigjährigen Kriegszustand mit Frankreich jedoch, der mit der Niederlage Napoleons bei Waterloo geendet hatte, sollte und mußte eine neue Weltordnung errichtet werden.
Frankreich und England wurden zu Alliierten gegen den östlichen Feind, das russische Reich nämlich, das sich große Stücke aus dem bröckelnden türkischen Großreich zu reißen drohte. (Die Schlachten des Krieges fanden statt auf der Krim, die britischen und französischen Truppen waren jedoch zunächst stationiert in der Türkei.)
Allerdings hatte Großbritannien nach dem langen Aderlaß des Krieges gegen den neuen Freund begonnen, das Empire, und das heißt: die Armee, mit einem verkleinerten Budget zu betreiben, und die Folgen dessen waren jetzt im Krimkrieg katastrophal. Der Ire William Howard Russell, der erste unzensierte Kriegskorrespondent der Londoner 'Times‘ jedoch alarmierte mit seinen Berichten die Öffentlichkeit, und das Kriegsministerium geriet unter Druck, etwas zu tun. Kriegsminister Sidney Herbert, befreundet mit Florence Nightingale, schickte eine eilig zusammengestellte Gruppe von Pflegerinnen unter ihrer alleinigen Leitung — darauf hatte sie bestanden! — auf den Weg.
Teil 2 über Florence Nightingales Wirken in Krimkrieg und ihren Rückzug ins eigene Krankenzimmer erscheint in der Ausgabe vom Dienstag, 15.Januar 1991.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen